Eine Stunde und 46 Nummern

■ Die New Yorker Künstlerin Shelley Hirsch im Podewill

Die bis vor kurzem noch als »Haus der Jungen Talente« bekannte Spielstätte in der Klosterstraße in Berlin-Mitte hat einen neuen Namen: es heißt jetzt Podewill. Am Mittwoch öffnete das »Neue Künstler-, Kunst- und Kulturzentrum« seine Pforten. Zur Aufführung kam das als »semi-autobiographisches Quasi-Musical über Ost- Brooklyn 1955—69« angekündigte Stück O Little Town of East New York; geschrieben, gesungen und gespielt von der New Yorker Künstlerin Shelley Hirsch.

Und zwar nur von ihr: solo. Die große Bühne ist aufs einfachste ausgestattet: links ein Schreibtisch, rechts eine Sitzecke und eine kleine Projektionswand, hinten eine dreistufige Treppe, wo die Show beginnt. Später noch ein Drehhocker, und damit hat sich's. Trotzdem geschehen in rascher Folge die tiefgreifendsten atmosphärischen Wechsel. Die eine kurze Stunde, die das Ganze dauert, ist mit 46, in Worten: sechsundvierzig, Nummern gefüllt, Streiflichtern aus Shelley Hirschs Erinnerung an ihre Kinder- und Jugendzeit in Brooklyn. Kontrastreiche Erfahrungen aus einem Viertel, wo ethnische und soziale Gegensätze aufs schärfste aufeinanderprallen und auch als solche gelebt werden. Hier ist nicht schon wieder vom »Schmelztiegel New York« die Rede, denn obwohl die Schüssel, in der gerührt wird, heiß ist, manchmal auch überkocht, sind doch die Ingredienzen alle erkenn- und unterscheidbar.

Shelley Hirsch erzählt davon. Im lockeren Konversationston spricht sie direkt und sehr persönlich in Richtung Publikum, immer sympathisch. Sie erzählt von Häusern und von Straßen, aber ganz besonders nähert sie sich den Personen. Auf verblüffende Weise kann sie von einer lieben Freundin erzählen und sie gleichzeitig verkörpern. Dabei verzichtet sie meist auf die große Geste, pantomimische Mittel setzt sie eher sparsam ein. Ihr Instrument ist ihre phänomenal wandlungsfähige Stimme. Von einem Moment zum nächsten wechselt sie den Tonfall, und immer trifft sie ihn genau. Arbeit am Tonfall: das ist das zentrale Gestaltungsmittel dieser Performance.

Das stimmt auch für die musikalische Begleitung. Diese liegt in den Händen von David Weinstein, mit denen er virtuos den Sampler und einige live-elektronische Gerätschaften bedient. Der Sound ist »crisp«, wie überhaupt die ganze Vorführung ohne technische Pannen über die Bühne geht. Weinstein, der schon seit Jahren mit Shelley Hirsch zusammenarbeitet, bleibt dicht am dramaturgischen Fluß, und er trifft eben auch exakt den Ton: spielerisch vermag er mit dem Zeichencharakter von musikalischen Stilen umzugehen. Dabei spielt er sich nie in den Vordergrund: die Tugend dessen, der begleitet.

Mittelpunkt und Vordergrund bleibt zu jedem Zeitpunkt Shelley Hirsch, die Fred Pommerehn mit seiner diesmal sparsamen, aber wie immer effektiven Beleuchtungsführung wirksam in Szene setzt. Manchmal retardiert der abwechslungsreiche Strom von kurzen und kürzesten Geschichten, um bei einem kleinen Tableau zu verweilen. Mal läuft dann ein kurzes Video mit mehr oder weniger stimmungsvollen Bildern aus Brooklyn, von Shelley Hirsch quasi aus dem Off kommentiert, oder es gibt eine Tanzeinlage. Besonders genial ein kleines Medley, in dem so ziemlich alle Songs vorkommen, die die Woodstock- und Monterey-Generation geprägt haben — in höchstens zwei Minuten.

Die Diaprojektionen von Eric Muzzy, die des schwarzen Hintergrundes wegen leider oft die Farben vermissen lassen, reichern das Geschehen emblematisch mit optischen Interpretationen des jeweils aktuellen Tonfalles an und schaffen mitunter überraschende Raumwirkungen.

Die längste Nummer im ganzen Stück war kürzer als der Beifall nach der Vorführung. Das geht in Ordnung. Frank Gertich