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Apokalyptische Nachrichten

Die Skulpturen Vadim Sidurs, der die Sowjetunion nie verließ. Eine Ausstellung, eingeweiht von Kopelew, zu sehen in Bremen  ■ Von Burkhard Straßmann

Moskau, Komsomolskij Prospekt 5, die Treppe runter: Der nasse Kellerraum war viele Jahre lang Treffpunkt „nonkonformistischer“ Künstler und Intellektueller, auch aus dem Westen. Hier verkehrten Wassili Schukschin, Heinrich Böll, Milos Forman und Petra Kelly.

Sie besuchten den Bildhauer Vadim Sidur, einen der eigenwilligsten, konsequentesten „Nonkonformisten“ der Post-Stalinzeit. In diesem Keller arbeitete Sidur 30 Jahre lang wie ein Berserker — als „Formalist“ kaltgestellt.

Sidur ist seit sechs Jahren tot; neuerdings und posthum wird er in Moskau zum Klassiker der Moderne verklärt und mit einem eigenen Museum geehrt.

Bremen, Gerhard Marcks-Haus: Das Bildhauermuseum wollte 1989 eine Sidur-Ausstellung ausrichten; zugleich bereitete die Stadt aber eine spektakuläre Ausstellung mit dem „Kreml-Gold“ vor. Sidur wurde vertagt, um die Sowjets nicht zu ärgern.

Aber jetzt: bis zum September ist unter dem Titel „Kunst im Zeitalter des Schreckens“ erstmals eine aufsehenerregende Werkgruppe des Künstlers zu sehen, die selbst abgebrühte West-Kunstinteressierte noch erschüttern kann, Sidurs „Skulpturen-Collagen“.

Eine böse, schmerzliche, aggressive Kunst, eine unerbittliche Materialschlacht, eine potente Kunst zum Thema Impotenz — nicht nur, aber auch und reichlich in sexueller Hinsicht. Die Figuren, die das Gerhard Marcks-Haus bevölkern, „Philosophen“, „Propheten“, bestehen aus Schrott — Abflußröhren, Zylinderköpfen, zerlegten Weckern, alten Mützen und Spaten — und sind doch Charaktere von anrührender Dramatik. Es sind Freaks aus Eisen, Holz und Gips, die silbern bemalten, deformierten Hände sprechen eine ausdrucksstarke, aber unverständliche Sprache. „Mutanten“ nannte Sidur diese Wesen, Ausgeburten seiner existenziellen Betroffenheit von Krieg, Tod und Fortschrittswahn.

Sidur, 1924 in Dnepropetrowsk geboren, wurde im Krieg schwer verletzt und war zeitlebens schwer herzkrank. Auch fremdem Leid gegenüber war er dünnhäutig: Sorgsam registrierte er alle apokalyptischen Nachrichten, die er von westlichen Radiostationen empfing.

Im Westen ist Sidur seit den 70ern präsent durch monumetale Skulpturen in Berlin („Treblinka“), Kassel („Den Opfern der Gewalt“), Konstanz, München und einem Walzwerk in Hagen.

Diese Arbeiten, vergrößerte Abgüsse von kleinen Modellen, hat Sidur, der sein Land nie verließ, nur auf Fotos gesehen. Sein 500 Skulpturen und über 1.000 Grafiken umfassendes Oeuvre entstand in weitgehender Isolation — ohne Publikum, ohne Kritik, ohne Markt. Von westlichem Standard, West-Avantgarde war er die meiste Zeit seines Lebens abgeschlossen; aus einem Interview 1980: „Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich damals nicht einmal wußte, daß es solche Bildhauer wie Moore, Lipschiz, Giacometti, Zadkin gibt.“

Zwei Grafik-Serien werden in Bremen gezeigt, „Mutationen“ und „Olympia, München 1972“, die in Verbindung mit den monströsen Geschlechtsorganen seiner Skulpturen auf eine weitere Obsession verweisen: Sex als Phänomen archaischer Gewalt und Untergangsmetapher. Drastischer wurden die Spiele der Jugend der Welt wohl kaum je denunziert: als Exzess von Gewalt und verbogenem Sex. Zerrissene Körper, abgerissene Penisse, aufgerissene Münder, garniert mit olympischen Ringen. Die verstümmelten „Mutationen“ scheinen schließlich nur noch eine Fähigkeit zu besitzen: sich fortzupflanzen. Es hat ein feministisch motiviertes Attentat bei einer Ausstellung in Westdeutschland gegeben — auf eine Skulptur namens „Phallus“.

„Sarg-Art“ nannte Vadim Sidur seine Kunst auch, speziell eine Skulpturen-Serie, die aus Schrott in hölzernen Sargkisten besteht — „Särge auf Rädern, fliegende Särge, Kindersärge, Jungfrauensärge, sich umarmende Särge, sich küssende Särge, Särge, die mit Särgen schlafen...“, zählte Sidur auf.

Im März 1974 stand in der Sowjetskaja Rossija ein Artikel über Vadim Sidur und seine Beziehungen zu „Elementen“ wie Lew Kopelew. Kurz darauf erfolgte der Parteiausschluß. Lew Kopelew eröffnete jetzt die Bremer Ausstellung: „Vadim Sidur ist unvergleichlich und unnachahmbar eigenständig, ein bewußter Individualist. Doch zugleich vertritt sein Schicksal, sein Werk die lebensspendenden Kräfte des russischen Geistes, der russischen Kunst.“ Erinnert Sidur mal an Assemblagen von Edward Kienholz, mal an die Expressionisten: Die einzige Kunst, auf die sich Sidur ausdrücklich bezieht, ist die archaische Plastik alter russischer Völker, russische Volkskunst. So brachial gefügt, so verschlingend und so geschunden Sidurs Wesen sind, sie sind Bekannte, Individuen nach Menschenmaß. Das Gegenteil gewisser pompöser Heroen, die heute ziemlich out sind.

Vadim Sidur — Kunst im Zeitalter des Schreckens“. Gerhard Marcks-Haus Bremen. Bis 20.September. Katalog 32DM.

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