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Unverstandenes und Selbstverständliches

■ Wiederaufnahme: Robert Wilsons „Einstein on the Beach“

Vor wenigen Wochen emeritierte ein guter Freund Marcel Reich-Ranickis: der Pole Andrzej Wirth. Dem Theater gilt Wirth, was Reich-Ranicki, mit mehr Gespür für's Showbusiness, der Literatur geworden ist: als ein radikal- leidenschaftlicher Theatervermittler, der das Berliner Theatertreffen regelmäßig als Inzestbetrieb beschimpfte und seine Kritik ausschließlich einem sogenannt „kosmopolitischen Theater“ widmen wollte. Stets hat es Andrzej Wirth gehaßt, daß das deutsche Publikum wie eine Schulklasse in der Kirche sitzt und auf das Amen des Theaters wartet — und daß die Pause beginnt. Er empfahl „Pausen nach eigenem Ermessen“ und verteidigte mit Vorliebe jene unartige Minderheit, die Aufführungen stört. Solchen Parkettbanausen widmete er freundschaftlich eine „Dramaturgie des Zwischenrufs“.

Mitte der Siebziger wurde Robert Wilson für Andrzej Wirth zum Garanten eines „kosmopolitischen Theaters“: Wilson, den er seither mit Zähnen und Klauen verteidigt, machte er in Deutschland bekannt und schützte ihn sogleich vor Fragen wie: „Wo bleibt der Text?“ oder „Was ist der Inhalt?“. 1976 in Hamburg sah das deutsche Publikum zum erstenmal das Fünf-Stunden-Epos „Einstein on the Beach“, Pause nach eigenem Ermessen, Gehen und Kommen, wie es einem gefällt. Der Designer und bildende Künstler Wilson hob das Theater in den Status einer Kunstausstellung, zeigte Theaterbilder, ihre allmähliche Verfertigung beim Sehen und ihr ebenso allmähliches Vergleiten in neue Bildkompositionen.

Nach der „Aktualität“ von Wilsons Oper eines „minimalistischen Maximalismus“ zu fragen, die er mit Phil Glass komponierte, ist so widersinnig, wie vor einem Bild von Japser Johns in einem Museum für Moderne Kunst zu fragen, ob Fahnen heute noch „up to date“ seien. Die Wiederaufnahme in Frankfurt von „Einstein on the Beach“, 16 Jahre nach der Uraufführung, wirkt wie ein reales Theatermuseum. Jenes seltene Ereignis, dem prinzipiell schnell vergänglichen Theater überhaupt wieder begegnen zu können, hat zu tun mit Wilsons Kunsthaltung zum Theater. Jedes kleine Fingerschnippen ist notiert, jede Lichtsequenz, jedes Kulissenteil aufbewahrt. Und so läßt sich 16 Jahre später alles detailgetreu rekonstruieren. Wilsons Theater ist wie eine Partitur verfaßt, seine Bühnenstühle sind weltweit reproduzierte Designobjekte, seine Theaterskizzen sammeln Kunstkenner. Der relativ geringen Haltbarkeit deutschen Repertoiretheaters steht eine in Amerika zwangsläufig kommerziellere Haltung ständiger Verfügbarkeit gegenüber.

Diese Wiederholbarkeit von Theater setzt voraus, die Bühne als ein Präzisionsinstrument zu behandeln. Wilsons formale Komposition, seine „Architektur“, die repetitorische Eigenschaft sowohl der Musik als auch der formalisierten „Rolle“ der Akteure befreien das Werk weitgehend von der Tageskondition des Schauspielers und vollständig von Änderungen, die durch (natürlich stattgefundene) Umbesetzungen geschehen. „Einstein on the Beach“ besteht aus drei Szenen, die sich dreimal wiederholen: Eine Lokomotive fährt langsam von rechts nach links. Ein Gericht hält statt. Ein Raumschiff fliegt im Weltraum. Sogenannte „Knee-Plays“, Kniestücke, umrahmen und unterbrechen diese Reihenfolge. Die Lokomotive wird umkreist, seitliche Ansicht, dann Rückansicht, sie mutiert zu einem Haus und schließlich zu einem Bus. Im Zentrum der Gerichtsszene befindet sich ein Bett, über welchem das Raumschiff schwebt. Die Gerichtsszene löst sich nach und nach auf, bis vom Bett nur eine Lichtachse bleibt, die sich von der Waagerechten (den Raum repräsentierend) in die Vertikale (Zeit symbolisierend) hebt. Das zuerst ferne (winzige) Raumschiff rückt bis zur Innenansicht immer näher.

„Und wenn ich von hier aus wieder zurücksehe“, sagt Wilson, „ist die Innenansicht ein Proträt; wenn ich einen Schritt weiter zurückgehe, sehe ich eine Stilleben. Diese sehr tiefen Räume mit den Tänzern und dem Raumschiff in der Ferne schließlich sind Landschaften. Ebenso sind die drei traditionellen Methoden der Kunst, Bildräume auszumessen: Porträt, Stilleben und Landschaft.“

Auch 16 Jahre später ist eine solche kunsthistorische Reflexion am Theater nie ernsthaft angenommen worden. Ungeachtet aller Adaptionen und Weiterentwicklungen des Wilsonschen Kunsttheaters, etwa durch Axel Manthey, Erich Wonder, Roberto Plate, Jan Fabre, Yannis Kokkos und Achim Freyer (der 1988 in Stuttgart die Oper „Einstein on the Beach“ neu interpretierte), schlugen — auch bei Wilsons späteren Arbeiten in Deutschland — alle kunstorientierten Bühnenversuche fehl, sobald sich eine literarische „Story“ einschlich, ein Drama stattfand. Theater als Kunstwerk: Unter der Fuchtel der Literatur und damit der Sinnfrage, die ein Text aufwirft, haben sich spätere Bühnenereignisse trotz „Einstein on the Beach“ nie wirklich zu einem Kunstereignis analog einer Kunstbetrachtung Bildender Kunst entwickeln können. Zuerst, so Andrzej Wirth, müßte man einen Sinn negieren dürfen: „Sinn gehört der Sphäre der Selbstbedienung an.“

Es gibt in Wilsons „Einstein“ eine Titelfigur, freilich verdreifacht und keineswegs dessen Relativitätstheorie illustrierend. Gerade die Einführung der Figur Albert Einsteins aber führt von allen Assoziationen mit Einstein weit fort. Es gibt keine Fabel um Einstein, die dramatische Figur spielt keine Rolle, sondern Geige. 1976 war dieses Verfahren revolutionär. Es bedeutete den Anschluß des Theaters an die längst Bedeutungen aussparenden Bildinterpretationen in der aktuellen Bildenden Kunst.

Mittlerweile hat man sich an ein paar Eigenarten Wilsons gewöhnt: so einfache Dinge wie, daß der Schauspieler, schaut er ins Parkett, nicht zwangsläufig das Publikum meint. Oder daß, sobald zwei Figuren auf der Bühne stehen, diese nicht automatisch miteinander in Dialog treten müssen. Oder daß bestimmte Handlungen und Zeichen auf der Bühne mehr als eine Bedeutung haben. Daß Zeit auch nicht mehr dargestellt werden muß, sondern sie vor der Bühne einfach so erlebt werden kann: Das sind Selbstverständlichkeiten, die 1992 kaum mehr ins Auge fallen, 1976 aber noch gewaltig irritierten.

Vergessen. Weniger vergessen ist der Einfluß Wilsons auf eine ganze Generation fortan regieführender Bühnenbildner in Deutschland. Nicht vergessen werden darf, daß Dramaturgen wie auch Theaterkritiker, vorbei am Bedeutungstheater, noch immer mühsam lernen, daß Theater in erster Linie eine Komposition innerhalb eines Raums und einer Zeit ist. Und nicht die bloß korrekte Inhaltsangabe eines Stücks. Auch diese Notwendigkeit, die zu einer neuen Kritik des Theaters führte, ist Robert Wilsons Verdienst. Arnd Wesemann

„Einstein on the Beach“ in der Frankfurter Oper (bis 22.August) war der Start einer Tournee nach Barcelona (29.9.-3.10.), Madrid (7.-10.10.), Tokio (18.-25.10.), Brooklyn (19.-23.11.) und Bobigny (12.-22.12.).

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