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Der Sündenfall der Sprache

Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Originaltexten und ihren Übersetzungen  ■ Von Klaus Modick

Poetry is what gets lost in translation. Robert Frost

Übersetzer pflegen die schlechte Bezahlung ihrer Arbeit zu beklagen. Gemessen am Zeitaufwand, gemessen an der in Geld nicht aufzuwiegenden kreativen Leistung einer gelungenen Übersetzung, ist diese Klage berechtigt. Allerdings verdient ein Übersetzer häufig mehr an seiner Übertragung als der Autor des Originals an Tantiemen für die Auslandsausgabe erhält. Das gilt nicht für Bestseller, an deren Erfolg Übersetzer über ihr Honorar hinaus mit einem Prozentanteil beteiligt werden müßten. Es gilt allerdings für die Mehrzahl übersetzter Prosa, von Lyrik zu schweigen.

Ein Beispiel in eigener Sache: Die französische Übersetzung meines Romans Das Grau der Karolinen dürfte der Übersetzerin etwa 15.000DM eingebracht haben; zugegeben, ein Hungerlohn, — der Autor hat für die französische Lizenz jedoch nur ein Zehntel dieser Summe als Garantiehonorar bekommen! Man könnte einwenden, für dies Garantiehonorar habe der Autor ja auch keine weiteren Leistungen zu erbringen gehabt, man könnte darüber hinaus einwenden, das sei das Risiko des freien Schriftstellers: Wäre der Roman in Frankreich ein Verkaufserfolg geworden, hätten sich die Tantiemen lediglich für den Autor erhöht, während die Übersetzerin auf ihrem Fixum festgesessen hätte.

Beide Einwände bekommen aber eine gewisse Schieflage, stellt man eine andere, weitverbreitete Übersetzerklage in Rechnung: Sie betrifft die Akzeptanz der Leistung des Übersetzers durch die Öffentlichkeit, insbesondere durch die Literaturkritik. Diese geht, wenn überhaupt, auf die Qualität einer Übersetzung nur am Rande ein und beläßt es dann auch meist bei ein paar stereotypen Floskeln. Daß es in Deutschland praktisch keine qualifizierte Übersetzungskritik gibt, ist eine gewiß mangelhafte Sache; eine andere, nicht minder problematische Sache ist es jedoch, daß Übersetzer von der Kritik einen Tribut erwarten, der dem des Autors ebenbürtig ist. Dahinter steckt die Überzeugung, Übersetzen sei eine Kunst, die wie die Kunst des Originals gewürdigt werden müsse. Auf dieser Ebene also möchte mancher Übersetzer behandelt werden wie der Autor — mit dessen lächerlichem Garantiehonorar freilich würde er sich nicht bescheiden wollen.

Geistiges Kunsthandwerk

Bekanntlich gibt es keine Muse der Übersetzung. Sie ist ein, im besten Sinn, geistiges Kunsthandwerk, das, wird es solide betrieben, dem Original auf andere Weise zurückgibt, was es ihm aufgrund der Reibungsverluste zwischen den Sprachen nehmen muß. „Worte zu dem zu finden, was man vor Augen hat — wie schwer kann das sein. Wenn sie dann aber kommen, stoßen sie mit kleinen Hämmern gegen das Wirkliche, bis sie das Bild aus ihm wie aus einer kupfernen Platte getrieben haben.“ In dieser Metapher hat Walter Benjamin die Arbeit des Autors anschaulich gemacht. Die Arbeit des Übersetzers besteht aber darin, von diesem aus der Wirklichkeit getriebenen Bild einen möglichst treuen Abdruck herzustellen. Leider begnügen sich viele Übersetzer nicht mit dieser schwierigen und gewiß oft undankbaren Aufgabe, sondern ihr Ehrgeiz zielt auf das, was mit einem verräterischen Wort als Nach-Dichtung bezeichnet wird und im schlimmsten Fall darauf hinausläuft, den Originaltext verbessern zu wollen. Goethe hat solche Übersetzungen „parodistisch“ genannt, weil sie sich einer fremden Sprache nur nähern, um dort Übereinstimmungen mit den eigenen Vorstellungen oder Anregungen für eigene Arbeiten zu finden. Das Problem stellt sich aber weniger den hauptberuflichen Übersetzern, als vielmehr manchen Schriftstellern, die als Übersetzer arbeiten — sei es aus ökonomischer Notwendigkeit, sei es aus „parodistischen“ Neigungen. Ein schlagendes Beispiel ist Arno Schmidt, der nicht nur ein penibler Kritiker anderer Übersetzungen war, sondern dessen eigene Übersetzungen so inspiriert und originell wie ungenau sind. Von ihm stammt die selbstironische Bemerkung, er stelle es sich komisch vor, einmal Adalbert Stifter ins Deutsche zu übertragen — was ja nichts anderes heißt, als aus der Sprache dieses Autors herauszuholen, was nach Schmidts Meinung dort verschüttet liegt. Und entsprechend lesen sich Schmidts Übersetzungen ausländischer Autoren; sie enthalten oft mehr O-Ton Schmidt denn Echo des Tons der betreffenden Schriftsteller; das reicht von der willkürlichen Beugung einzelner sprachlicher Wendungen bis zur Transposition von Motiven. Goethe hat angemerkt, daß diese parodistischen, kritisch gemeinten Übersetzungen, „die mit dem Original wetteifern, eigentlich nur zur Unterhaltung der Gelehrten untereinander“ dienen. Arno Schmidts Poe-Übersetzungen haben deshalb auch keine kanonische Wirkung in Deutschland erzielt.

Nachdichten = Verwässern?

Vladimir Nabokov hat in einem Interview erklärt, die Lektüre „poetischer“ Übersetzungen einiger berühmter Zeitgenossen mache ihn krank, und er hat für sein Leiden ein hübsches Bild geliefert: Man sagt, daß ein kleiner malaiischer Vogel nur dann singe, wenn er beim jährlichen Blumenfest von einem besonders dafür ausgebildeten Kind auf unsägliche Weise gequält wird: „Ein gefolterter Autor und ein betrogener Leser, das ist das unvermeidliche Ergebnis dilettantischer Paraphrasierung. Die einzige Aufgabe und Rechtfertigung von Übersetzungen ist es, die möglichst genaue Information zu übertragen, was nur durch eine wörtliche Übersetzung mit Anmerkungen zu erreichen ist.“ Nabokovs Verdikt gegen das nachschöpferische Erdichten, gegen Verbesserungsversuche zumal, die Verwässerungen gleichkommen, und seine Forderung nach einem Anmerkungsapparat, in dem die Bedeutungsstreuung der Übersetzung entfaltet werden kann, versteht die Arbeit des Übersetzers also als eine kommentierende Tätigkeit auf der Basis absoluter Werktreue.

Wenn man Paul Valérys subtiler Bemerkung folgt, im gelungenen literarischen Kunstwerk werde die servile Nachahmung dessen sprachliches Ereignis, was in den Dingen undefinierbar ist, so leuchtet ein, daß sich der Übersetzer in der Tat vor eine grundsätzlich andere Aufgabe gestellt sieht als der Autor eines literarischen Originals. Der Autor nämlich hat die künstlerisch entscheidende Übersetzung bereits geleistet, indem er die Welt zur Sprache gebracht, ihr Bild aus der Kupferplatte getrieben hat — der Übersetzer aber bringt Sprache zur Sprache: Er hat es, alle Leistungen einer inspirierten Übersetzung eingerechnet, immer schon mit dem gleichen Medium, wenn auch im Gewand eines fremden Systems, zu tun.

Walter Benjamin hat deshalb die Übersetzung als Echo des Originals bezeichnet: „Die Übersetzung sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im inneren Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werks der fremden Sprache zu geben vermag.“ Insofern ist die Aufgabe des Dichters eine „naive, erste, anschauliche, die des Übersetzers abgeleitete, letzte, ideenhafte Intention.“ Mit diesem Gedanken wird der Übersetzung zwar der Charakter der Dichtung abgesprochen, ihr zugleich jedoch eine gewissermaßen philosophisch-kommentierende Funktion zugewiesen.

Übersetzen heißt kommentieren

Der Übersetzer ist insofern Kommentator, als er den Orignaltext als Mitdenkender, Überdenkender eine Zeitlang begleitet; das Ergebnis dieses Mitdenkens bildet die als Kommentar verstandene Übersetzung. Sie gibt das Paradigma eines vermittelten Werks, das dennoch eigen ist — aber eben kein Kunstwerk. Übersetzungen entfalten vielmehr ein Werk, und zwar sowohl geschichtlich, wenn es sich um Texte aus früheren Epochen handelt, als auch in ihrem gegenwärtigen Konnotationspotential. Zweifellos können bestimmte Bedeutungen des Originals überhaupt erst in seinen Übersetzungen entstehen, Bedeutungen, über die sich der Autor gar nicht klar sein konnte, über die der Übersetzer sich aber Klarheit verschaffen muß. Das ist aber keine künstlerische, sondern eine kommentierende und synthetisierende Leistung, die an die Bedeutungsstrukturen derjenigen Sprache gebunden ist, in die übersetzt wird, und die durch die kulturellen Traditionen vermittelt ist, denen diese Sprache entspringt.

Übersetzungen sind also wesentlich interkulturelle Kombinationsleistungen, in denen der Übersetzer weniger am jeweils zufälligen Stand seiner Sprache festzuhalten, als vielmehr diese durch die Impulse der fremden Sprache in Bewegung zu versetzen hat. Neu entsteht in jeder Übersetzung die „Art des Meinens“ gegenüber dem identischen Gemeinten: Schlüssel und key meinen das Gleiche, die Art des Meinens ist jedoch in ihrem Sprach- und Schriftgestus lautlich wie bildhaft verschieden und kann im strengen Sinn nicht übersetzt, sondern nur ersetzt werden. Diese Ersetzung schafft jedoch dem Original eine weitere Dimension. Besonders problematisch wird das, nebenbei gesagt, spätestens dann, wenn Slang, Dialekte und Jargon zu übersetzen sind, weil sie eine Art des Meinens darstellen, die sich bereits von ihrer eigenen Sprachkonvention separiert hat.

Die schönen Übersetzungen sind selten treu, die treuen nur selten schön. Die Arbeit eines guten Übersetzers bestünde darin, seine sprachliche Liaison mit dem Originaltext so zu gestalten, daß die Schönheit treu bleibt und die Treue schön wird. Diese Kombination ist jedoch deshalb so schwierig, weil der Gegenstand, dem des Übersetzers Zuwendung gilt, um den er werben muß, damit er sich öffnet und in seiner Sprache aufgeht, sich nie vollständig aus der Erfahrung lösen läßt, in der er seine Unschuld verlor und aus dem schweigenden Dasein der Dinge zu Sprache und Text wurde. Vielleicht hängt die Enttäuschung mancher Übersetzer, wenn ihre Arbeit in der Öffentlichkeit nicht recht gewürdigt wird, damit zusammen, daß er nach dem Autor der beste Kenner des Originals ist — in gewisser Hinsicht sogar ein besserer Kenner. So ergeht es wohl auch manchem Liebhaber, der seine Geliebte besser kennt als seine Vorgänger und den doch der Gedanke quält, daß die entscheidende Erfahrung ohne ihn stattfand.

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