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Schreiben in vielen Sprachen

Indische Gegenwartsliteratur in deutscher Übersetzung: Anita Deshai, Mahasveta Devi, Amitav Ghosh, Ruth Prawer Jhabvala, R.K. Narayan, Bhischam Sahni  ■ Von Daud Haider und Claudia Polzer

Die Literatur, die heutzutage auf dem indischen Subkontinent geschrieben wird, kann man nicht ohne weiteres als „indisch“ bezeichnen. Von indischer Literatur konnte man sprechen, solange noch in Sanskrit geschrieben wurde. Sanskrit ist jedoch längst eine „tote Sprache“, vergleichbar dem Lateinischen.

Heute entsteht indische Literatur in einer sprachlichen Vielfalt. Nahezu jeder indische Bundesstaat hat seine eigene Sprache und damit auch seine eigene literarische Tradition, hinzu kommen die Idiome der verschiedenen Stämme und unzählige, stark voneinander differierende Dialekte. Die Wurzeln der im nördlichen Teil Indiens verbreiteten Sprachen wie beispielsweise Hindi, Gujarati, Punjab und Bengali liegen im Sanskrit, während die südindischen Sprachen wie Tamil, Kannada und Mayalalam zur drawidischen Sprachfamilie gehören.

Darüber hinaus wird auch auf Englisch geschrieben, der zweiten offiziellen Sprache Indiens. In der gebildeten Schicht ist das Englische weit verbreitet und wird von nicht wenigen SchriftstellerInnen bevorzugt. Ein Grund dafür mag, neben der überregionalen Verständlichkeit der Texte, auch in der weiten Verbreitung liegen, die sie auf diese Weise im englischsprachigen Ausland erreichen. Die AutorInnen selbst nennen sich anglo- indische Schriftsteller, und ihre Bücher werden aus dem Englischen häufig in weitere Fremdsprachen übersetzt.

Übertragungen in andere lokale Sprachen Indiens jedoch bleiben zumeist aus. Das hat zur Folge, daß ein beträchtlicher Teil der in Indien entstandenen Literatur im eigenen Land nur von der gebildeten städtischen Mittel- und Oberschicht gelesen wird, denn gewöhnlich verfügt nur sie über ausreichende Englischkenntnisse. So bleibt denjenigen, von denen diese Literatur so oft handelt – den Angehörigen niedriger Kasten, den in den Slums und auf den Straßen Lebenden, der Stammesbevölkerung – fast immer unbekannt, was über sie geschrieben wurde.

Neben den verschiedenen Sprachen prägen natürlich auch unterschiedliche soziale, kulturelle und politische Faktoren wie die Herkunft, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste, Ethnie, Religion oder die politische Überzeugung die literarischen Texte. So entsteht insgesamt ein vielseitiges und vielschichtiges Bild indischer Gegenwartsliteratur.

Wir stellen im folgenden sechs AutorInnen vor, deren Werke in den letzten Jahren ins Deutsche übersetzt wurden: die Schriftstellerinnen Mahasveta Devi, Ruth Prawer Jhabvala und Anita Desai sowie die Autoren R.K. Narayan, Bhischam Sahni und Amitav Ghosh. Mahasveta Devi schreibt in Bengali, Bhischam Sahni in Hindi, die vier anderen auf englisch.

Der 1906 im südindischen Madras geborene R.K. Narayan, der in diesem Jahr auch als Kandidat für den Nobelpreis im Gespräch war, ist neben Mulk Raj Anand und Raja Rao wahrscheinlich der in Indien populärste Vertreter der indo-englischen Literatur. Seine Muttersprache ist Tamil. Graham Greene verhalf Narayans erstem Roman „Swami and Friends“ (1935) in England zur Veröffentlichung.

Erst danach wurde der Autor auch in seinem Heimatland populär – die Nachwirkungen des Kolonialismus führen in Kunst und Wissenschaft häufig dazu, daß erst der Erfolg in Europa oder Amerika dann auch zu Hause Ruhm und Anerkennung bringt.

Narayans literarische Welt ist geprägt durch seine südindische Herkunft. Er schuf die fiktive Kleinstadt „Malgudi“, die zum Schauplatz von 14 Romanen und über 200 Kurzgeschichten wurde. Der Mikrokosmos Malgudi wurde mit der Zeit zum literarischen Sinnbild für das Leben in Indien. Alltägliche Charaktere, wie sie tatsächlich an vielen Orten Indiens zu finden sind, prägen Narayans Prosa. Sie leben, wie der Autor selbst, in einer durch und durch hinduistisch-brahmanisch geprägten Welt.

Das Leben in Malgudi verläuft zumeist ruhig, abgesehen von den unvermeidlichen kleinen Turbulenzen, langweilig jedoch ist es nie. In „Der Fremdenführer“ beispielsweise gelingt es dem Titelhelden nach der Entlassung aus dem Gefängnis, sich mit Lügengeschichten eine Existenz aufzubauen, zu Geld und Ruhm zu kommen. Seine Umgebung ist von seinen übernatürlichen Fähigkeiten überzeugt und macht ihn zu ihrem Guru, er selbst bildet sich schließlich ein, ein Heiliger zu sein. Ernst wird die Situation für Raju, als der versprochene Regen ausbleibt. Er, der gutes Essen liebt, muß sich nun im Fasten nach gandhischem Vorbild üben.

Bei der heute 66 Jahre alten Mahasveta Devi, die in ihrer Muttersprache Bengali schreibt, gibt es keinen fiktiven Ort wie bei Narayan. Ihre Romane und Kurzgeschichten sind äußerst realitätsbezogen, immer wieder macht sie den alltäglichen Kampf und das Leid der Unterdrückten – der Landlosen und Kleinbauern, der Slumbewohner, der Stammesbevölkerung– in einem feudal-kapitalistischen System zu ihrem Thema. Die überzeugte Kommunistin und Feministin, die sich in verschiedenen politischen Bewegungen engagierte, will durch ihr Schreiben politisches Bewußtsein wecken und zum Engagement für eine humane Gesellschaft aufrufen.

Eine im Orlanda-Verlag veröffentlichte Anthologie von Kurzgeschichten indischer Schriftstellerinnen enthält Devis „Die Weltamme“. Jashoda hat 20 Geburten hinter sich, das Muttersein wird zu ihrem Beruf. Sie arbeitet als Amme, um das Überleben ihrer eigenen Familie zu sichern. Als die einst von ihr genährten Söhne ihres Arbeitgebers selbst verheiratet sind und Kinder haben, stillt sie auch diese.

Bhischam Sahni mußte 1947 im Alter von 32 Jahren, zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung Indiens, mit seiner Familie aus dem heutigen Pakistan nach Indien flüchten. Erst danach begann er mit der literarischen Arbeit. Die Erfahrung der Flucht und die Auseinandersetzung mit dem Kommunalismus – thematisiert in der feindseligen Beziehung zwischen Hindus und Muslims – sind für seine Werke zentral.

Der 1989 nach einer Übersetzung aus dem Indi in deutscher Sprache erschienene Roman „Basanti“ zeichnet ein realistisches Bild der Probleme der Metropole Delhi, in der Sahni heute lebt. Die sich ständig verschlechternden Lebensbedingungen auf dem Land treiben immer mehr Menschen in die Großstädte, Slums entstehen; mit ihren spezifischen Problemen setzt sich Sahni auseinander. Der Roman begleitet eine junge Frau auf einem Stück ihres Lebenswegs, Generationskonflikte spielen eine wichtige Rolle: Basanti ist nicht bereit, einer arrangierten Hochzeit zuzustimmen.

Der Autor ist tief in seiner Kultur verwurzelt, doch dadurch keineswegs blind gegenüber Ungerechtigkeit, sozialen Hierarchien oder religiösen Vorurteilen. Auch ihn motiviert die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung.

Ruth Prawer Jhabvela ist im Grunde keine indische Schriftstellerin, sie wurde jedoch mit Romanen, Kurzgeschichten und Drehbüchern über Indien im Westen bekannt. 1927 als Tochter jüdischer Einwanderer aus Polen in Köln geboren, mußte sie mit ihrer Familie während des Nationalsozialismus emigrieren, zunächst nach London. In Indien lebt sie seit ihrer Heirat mit einem indischen Architekten.

In dem 1990 auf Deutsch erschienenen Roman „Die Liebesheirat“ geht es um eine arrangierte Heirat. Amritas Familie ist zwar relativ tolerant, doch zu groß darf der Unterschied zwischen den Kasten und dem damit verbundenen sozialen Status der beiden Familien nicht sein. Eine in vergleichbaren Fällen in der Oberschicht erprobte Strategie wird auch hier in Erwägung gezogen: Amrita soll zum Studium nach England geschickt werden, um auf andere Gedanken zu kommen. Im Erzählungsband „Eine Witwe mit Geld“ sind zumeist Frauen, darunter auch Europäerinnen, die Hauptfiguren. Worin sich ihre Vorstellungen und Ideale unterscheiden, ist die Frage, die Jhabvala beschäftigt. Dabei ist ihre Gesellschaftskritik nicht ohne Witz, Ironie und Komik.

Amitav Ghosh ist erst Anfang 40. Er lebte sowohl im heutigen Bangladesch als auch in Westbengalen, zudem in Sri Lanka und England, gegenwärtig lehrt er in Delhi Anthropologie. In Europa wurde Ghosh mit seinem Roman „The Circle of Reason“ („Bengalisches Feuer oder Die Macht der Vernunft“) bekannt, einem Reise- und Erinnerungsroman. In seinem zweiten Roman „Schattenlinien“ geht es um die Grenzen des gegenseitigen Verstehens von Figuren mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund, um deren Versuch, phantastische Vorstellungen und erlebte Realität einander anzunähern.

Anita Deshai ist die 1937 geborene Tochter eines Bengalen und einer Deutschen. Sie wuchs in Indien auf und lebt in Bombay. „Im hellen Licht des Tages“ ist ihr interessantester Roman. Wieder prallen zwei Welten aufeinander: Zwei Schwestern treffen sich am Ort ihrer Kindheit; die eine verließ ihn nie, die andere besucht ihn nach vielen Jahren wieder – Vergangenes wird gegenwärtig.

Es wäre lohnend, weitere literarische Texte von indischen AutorInnen ins Deutsche zu übersetzen. Ein wesentliches Problem dabei liegt allerdings darin, die vielfältigen sprachlichen Schattierungen, über die die indischen Sprachen verfügen, in der Übersetzung zu erhalten. Selbst die Übertragungen der indo-englischen Literatur bleiben ja oft genug blaß.

Anita Deshai: „Im hellen Licht des Tages“, List Verlag, München, Leipzig 1992

Mahasveta Devi, in: „Muniyakha“, Orlanda Verlag, Berlin 1990

Amitav Ghosh: „Bengalisches Feuer oder Die Macht der Vernunft“, Rowohlt, Berlin 1991 und „Schattenlinien“, Rowohlt, Berlin 1992

Ruth Prawer Jhabvala: „Die Liebesheirat“, dtv, München 1990 und „Eine Witwe mit Geld“, dtv, München 1992

R.K. Narayan: „Der Fremdenführer“, Unionsverlag, Zürich 1986

Bhischam Sahni: „Basanti“, Waldgut, Frauenfeld 1989

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