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Vom Fall Anita Hill zum Fall Capitol Hill

Im US-Wahlkampf kandidieren viele Frauen für Kongreß- oder Senatssitze/ Nach dem Skandal um sexuelle Belästigung von Juraprofessorin durch Bundesrichter sind ihre Chancen gestiegen  ■ Aus Coraopolis Andrea Böhm

Coraopolis hat 7.000 Einwohner, die Tasse Kaffee kostet 25 Cents, der Strafzettel für Falschparken einen Dollar, und die Leute grüßen sich permanent auf der Straße. Wer sich deshalb in die guten alten Zeiten zurückversetzt fühlt, der irrt. Denn Coraopolis liegt in Pennsylvania. Dort erzählen einem 45jährige, die zwanzig Jahre älter aussehen, daß ihr Leben verdammt hart war. In Pennsylvania gibt es Landkreise, da lebt jeder vierte unterhalb der Armutsgrenze. Als „arm“ gilt den Statistikern eine vierköpfige Familie, die im Jahr mit maximal 12.600 Dollar auskommen muß.

So gesehen, stehen die Leute in Coraopolis noch relativ gut da. Zwar gibt es auch hier kaum Arbeitsplätze. Die jungen Leute wandern in andere Bundesstaaten ab. Aber der Ort liegt landschaftlich wunderschön inmitten von Hügeln. So schön, daß wenigstens das Grundstücks- und Baugeschäft floriert. Denn außerdem sind es von Coraopolis bis Pittsburgh nur etwa fünfzehn Meilen. Im einzigen Hotel tagt gerade die „American Association of Retired People“, die Vereinigung amerikanischer Pensionäre. Francis Cook ist 68 Jahre alt und war früher Sozialarbeiterin in Philadelphia. Mit etwa hundert anderen Delegierten wartet sie schon seit zwanzig Minuten auf Lynn Yeakel, Kandidatin der Demokraten für den Sitz im Senat, die ihnen die Vorzüge ihres Wahlprogramms erklären soll. Wie die meisten ihrer Landsleute ist Francis Cook zur Zeit nicht gut auf Politiker zu sprechen.

Das „Anita-Hill-Syndrom“

Lynn Yeakel ist der Shooting-Star der demokratischen Partei in Pennsylvania. Den rasanten Anstieg ihrer Popularitätskurve verdankt sie, wie andere Frauen in der Politik, dem Fall Anita Hill: Im Oktober 1991 saß die US-Nation drei Tage lang gebannt vor dem Fernseher und sah sich einen makabren Machtkampf an: Anita Hill gegen Clarence Thomas. Er, ein erzkonservativer Bundesrichter, war von Präsident George Bush für den Obersten Gerichtshof nominiert worden; sie, Juraprofessorin an der Universität von Oklahoma, beschuldigte ihn, sie Jahre zuvor als ihr Vorgesetzter sexuell belästigt zu haben. Vor dem Justizausschuß des Senats und vor laufenden Fernsehkameras mußte Anita Hill ihre Vorwürfe en détail schildern. Thomas bestritt alles. Der Ausschuß, bestehend aus vierzehn männlichen Senatoren, glaubte ihm – ebenso der gesamte Senat, der wenig später Thomas' Nominierung zum Verfassungsrichter bestätigte.

Einer dieser Männer war der Republikaner Arlen Specter, der seit elf Jahren die Interessen des Bundesstaates Pennsylvania im Senat vertritt – und zwar recht erfolgreich, wie ihm nicht nur die eigene Partei bescheinigt. Specter profilierte sich während der Anhörung Anita Hills als besonders scharfzüngiger Inquisitor und kanzelte die Professorin als Lügnerin ab. Was sie da erzähle, sei „glatter Meineid“. Dieser Satz könnte Arlen Specter am 3. November die Karriere kosten. Frauen aller politischer Schattierungen reagierten mit einem Aufschrei der Empörung. Daß weibliche Abgeordnete im US-Kongreß eine verschwindend kleine Minderheit sind, war auch vor der Anhörung im Justizausschuß kein Geheimnis. Von 100 Senatoren sind 3, von 435 Abgeordneten des Repräsentantenhauses 29 Frauen. Die Live-Übertragung führte dem Publikum dieses Machtverhältnis drastisch vor Augen. Ein Bild prägte sich im Gedächtnis der Fernsehzuschauerinnen (und einiger Zuschauer) ein: Vierzehn Männer hielten Gericht über eine Frau. Der Fall Anita Hill sollte wahlpolitische Schubkraft entwickeln.

Zwischenzeitlich schien sich die Empörung zu legen. Doch mit Beginn des Vorwahlkampfs war sie wieder zu spüren – Politikerinnen aller Parteien wußten sie für sich zu nutzen. Mobilisiert durch den Fall „Anita Hill“ und die extrem frauenfeindliche Politik der Bush-Administration in der Abtreibungsfrage, traten Frauen von Kalifornien bis New Hampshire, von Illinois bis Texas in den Wahlkampf ein, um Parlaments- und Kongreß- Sitze zu erringen.

In Pennsylvania tauchte eine bis dahin unbekannte Demokratin mit einem ebenso einfachen wie durchschlagenden Wahlspot auf: Darin wird der Auftritt Arlen Specters im Justizausschuß noch einmal abgespielt. Dann tritt eine gewisse Lynn Yeakel vor die Kamera und fragt: „Hat Sie das auch so wütend gemacht wie mich?“ Die 51jährige gewann den Vorwahlkampf gegen ihre männlichen Konkurrenten und bedroht nun Specters Erfolgsaussichten.

Gerade weil Arlen Specter, einer der wenigen liberalen Republikaner, so populär ist, würde sich die demokratische Parteispitze über seine Niederlage besonders freuen. Clinton im Weißen Haus, eine demokratische Mehrheit im Kongreß – und der Sieg von Lynn Yeakel als Sahnehäubchen auf dem Siegerkuchen.

Solche wahlpolitischen Erwägungen haben Francis Cook und die Pensionäre von der „American Association of Retired People“ natürlich nicht im Sinn, als die Kandidatin endlich in den Saal eilt. Sie wollen wissen, wie Yeakel die heißen Eisen dieses Wahlkampfs anfassen will: Krankenversicherung im Alter, Sozialversicherung und schließlich die Wirtschaftskrise. Yeakel entschuldigt sich für ihre Unpünktlichkeit und eröffnet ihre Rede mit der Feststellung, sie habe Erfahrung mit alten Leuten, weil ihre Eltern und Schwiegereltern allesamt über achtzig Jahre alt seien. Die Stimmung im Saal bleibt eisig. Aber dann beweist sie, daß sie in den letzten Monaten Wahlkampf gelernt hat. Mit scharfer Stimme präsentiert sie ihren Zuhörern ein verheerendes Resümee der letzten zwölf „Reagan-Bush-und-Specter“-Jahre: Arbeitsmarkt, Lohnentwicklung, Gesundheitsversorgung und industrielle Infrastruktur – „alles ist in den Keller gegangen“. Sie bietet ein Wahlprogramm an, das sich in weiten Teilen mit dem des Präsidentschaftskandidaten Bill Clinton deckt: ein staatlich finanzierter Milliardenfonds, um „Amerika wiederaufzubauen“, Steuererhöhungen für die Reichen, Steuererleichterungen für die Armen und den Mittelstand. Letzteres dürfte angesichts der Haushaltslage ein leeres Versprechen bleiben.

Nach zwanzig Minuten stellen die ersten immerhin anerkennend fest, daß Yeakel nicht so glatt und programmiert daherredet wie Arlen Specter, der sich tags zuvor vorgestellt hatte. „Zwölf Jahre im Senat sind für Specter eigentlich genug“, sagt Francis Cook und fügt energisch hinzu: „Aber ich wähle sie nicht, weil sie eine Frau ist.“

Auf Coraopolis Hauptverkehrsstraße stehen sich bereits eine Handvoll UnterstützerInnen und zwei lokale Fernsehteams die Beine in den Bauch. Die improvisierte Pressekonferenz wird mehrfach von Abgaswolken und dem Lärm durchfahrender Laster unterbrochen. Trotzdem kann Lynn Yeakel ihre wichtigsten Slogans noch einmal vor laufender Kamera anbringen. In den Abendnachrichten entsteht der Eindruck, die Kandidatin stehe inmitten einer Großkundgebung. Wohlweislich spricht Yeakel das Thema Anita Hill von sich aus nicht mehr an. Sie will nicht als Kandidatin gelten, die nur durch ein „Protest-Ticket“ in den Kongreß einzieht. Es genügt, daß ihr Konkurrent bei Wahlkampfreden von Zwischenrufern an seine unrühmliche Rolle erinnert wird. Arlen Specter hat inzwischen das Büßerhemd übergestreift und beteuert, daß er mittlerweile eine Menge über das Problem der sexuellen Belästigung gelernt habe, was ihm vor einem Jahr noch unbekannt gewesen sei.

„Das Problem ist nicht der Fall Anita Hill“, kommentiert Lynn Yeakel süffisant. „Das Problem ist der Fall Capitol Hill.“ Elf Frauen kandidieren in diesem Jahr für Sitze im Senat, über hundert Frauen für einen Platz im Repräsentantenhaus. Die meisten sind Demokratinnen. Sollten sich die Vorhersagen von Wahlforschern bewahrheiten, dann haben die meisten gute Chancen, ihre männlichen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. In Kalifornien liegen im Rennen um die Senatssitze zwei Frauen vorne, die Demokratinnen Dianne Feinstein und Barbara Boxer. Aus dem Bundesstaat Illinois wird mit großer Wahrscheinlichkeit am 3. November die erste Afroamerikanerin, Carol Moseley Braun, in den US-Senat einziehen.

Ochsentour vor dem Wahltag

In Pennsylvania steht es noch unentschieden. Letzte Meinungsumfragen geben Specter einen leichten Vorsprung, seitdem er seine TV- und Briefkampagne gegen Yeakel gestartet hat. Bei der Wahl seiner Methoden ist er nicht zimperlich: In einer Postwurfsendung wurde Lynn Yeakel des Antisemitismus bezichtigt, weil sich der Pfarrer ihrer Gemeinde angeblich israelfeindlich geäußert hatte. In seine Fernsehspots investiert er pro Woche mehrere hunderttausend Dollar. Doch Yeakel kann mithalten. Denn die Empörung über den „Fall Anita Hill“ hat zu einer Spendenwelle für Kandidatinnen geführt. „Emily's List“, ein Spendennetzwerk für Kandidatinnen der Demokraten, verzeichnet neue Rekordsummen. „Frauen gelten als Außenseiterinnen“, sagt Ellen Malcolm, Präsidentin von „Emily's List“. „Deshalb hält man sie für vertrauenswürdiger.“

Knapp zwei Wochen vor der Wahl geht Lynn Yeakel in den Endspurt: In einem gecharterten Bus fährt sie drei Tage lang durch den Bundesstaat, hält Reden vor Supermärkten, macht Mittagspause mit Stahlarbeitern, besucht Gottesdienste, Football-Spiele, Kindergärten und Kegelabende, schüttelt Hände, eröffnet Dinnerpartys für WahlkampfspenderInnen und hämmert den Leuten immer wieder ein, daß auch in Pennsylvania die Zeit für den „Wechsel“ gekommen sei. Ein Zauberwort, das einst für Ross Perot stand und danach von Bill Clinton übernommen wurde. Bislang stehen die Chancen nicht schlecht, daß sich die Ochsentour am 3. November auszahlen könnte.

Unabhängig davon beobachtet Yeakel schon jetzt mit einer Mischung aus Amüsement und Triumph, wie sich die amtierenden Senatoren mit fast grotesker Beflissenheit um die Stimmen der Wählerinnen bemühen. Mit einer sensationellen Mehrheit von 89 zu 4 Stimmen verabschiedete der Senat als eine seiner letzten Amtshandlungen Ende September einen Antrag, wonach 185 Millionen Dollar aus dem Rüstungshaushalt gestrichen und der Brustkrebsforschung zur Verfügung gestellt werden sollen. Geld, das durch Kürzungen im Militäretat frei geworden ist, muß nach geltender Regel eigentlich eingespart werden. Es darf nicht für andere Zwecke verwendet werden. Ursprünglich hatten über dreißig Senatoren gegen das Vorhaben gestimmt. Doch als sich bei der Auszählung eine Mehrheit dafür abzeichnete, schlichen 28 wieder in den Saal und tauschten ihre Neinstimme in ein Ja-Votum um. Vielleicht hat ihnen die martialische Rhetorik der Befürworter den Sprung über den eigenen Schatten erleichtert. „Wir brauchen“, so ein Senator aus Iowa, „einen Krieg an allen Fronten gegen den Brustkrebs.“ Gefragt, ob ein solches Abstimmungsverhalten vor dem Fall Anita Hill denkbar gewesen wäre, erklärte der Politiker: „Ich glaube nicht.“

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