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Ein Jahrhundert neigt sich dem Ende zu

■ Der Kunstverein verabschiedet sich mit der Künstlergruppe General Idea aus der südlichen Deichtorhalle

aus der südlichen Deichtorhalle

Drei acrylbefellte, ausgestopfte Seehundbabies, Die letzten Heuler, liegen - warten gar? - verloren in einem Meer von styroporenen Eisschollen. Eine skurril-kitschig inszenierte Installation namens Fin de siècle, die ambivalent wirkt: Obwohl sie zunächst zum Schmunzeln verlockt, schwingt beim zweiten Blick Kälte, Einsamkeit und schale Nüchternheit mit. Ein tückischer Disput zwischen Kitsch und Ernsthaftigkeit, eine Demontage der Gegenwart. Der 1990 konzipierte Raum steht im Mittelpunkt einer Retrospektive zu Arbeiten des kanadischen Künstlertrios General Idea in der südlichen Deichtorhalle. General Idea, das sind die Künstler AA Bronson, Jorge Zontal und Felix Partz, die bereits seit 1968 ihre Kunst strategisch raffiniert vermarkteten.

Um die „ewigen“ Styropor-Eisschollen herum gruppieren sich weitere Räume mit Installationen, die die verschiedenen Entwicklungsphasen der Künstlergruppe darbieten. AIDS ist dabei ein im Zentrum stehendes Thema der letzten Jahre. So präsentieren AZT-Pillen die Allgegenwärtigkeit der Viruskrankheit: Fünf überdimensionale, sarggroße Kapseln liegen auf dem Boden, sie stehen für eine Tagesration, die ein AIDS- Kranker im Kampf gegen das Virus zu sich nimmt. Die in vier Räumen fünfreihig an die Wand gehefteten kleineren AZT-Pillen „verkörpern“ eine Jahresration. Trotz der deutlichen Sprache erzeugt der Anblick eine merkwürdige klinische Entrücktheit, die das AIDS-Leiden in seiner Dimension nicht spürbar macht. Künstlerische Ohnmacht, die keine Fragen beantworten kann, aber dennoch Wirkung zeigt.

AA Bronson & Co. haben 1988 das berühmte 60er Jahre Love-Logo von Robert Indiana in ein Aids- Logo umgemodelt. Mit diesem

1farbkräftigen Motiv ist ein Raum komplett tapeziert worden. Pop- Art pur grüßt. Gleich dahinter, vollständig kontrastierend, hängen in einem weiteren Raum neun in Ton eingearbeitete Strukturen, die

1an Eissterne erinnern. Ganz in sich ruhende, schöne Motive, die „die zweidimensionalen Strukturen der AIDS-Viren“ anzeigen, so Bronson.

Doch beschäftigt sich die fragmentarische Ausstellung nicht allein mit dem Thema AIDS, sondern spielt ebenso mit medialen und kunsthistorischen Bezügen. Während auf einem Monitor der bunte Teststreifen eines Fernsehers in Endlosfolge zu sehen ist, reproduzieren zwei große Bilder den gleichen Teststreifen noch einmal in multipler Anfertigung. Das Medium Fernsehen gestaltet hierbei die Außenwelt, konditioniert sie regelrecht. „Musikalisch“ begleitet wird die Konstruktion dieser fiktiven Wirklichkeit durch Yves Kleins monotone Symphonie.

Schein und Wirklichkeit, Fiktion und Wahrheit. Wer weiß das in der medial entstellten Konsumentenwelt noch eindeutig zu unterscheiden? Folgt man den Befindlichkeiten und Gedankengängen von General Idea, so sind wir alle schon mitten in einer Realität, die uns selbst nur noch als Placebo erscheint.

Dierk Jensen

Bis 1.4.93. Katalog: 44 Mark

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