piwik no script img

Von Kulturen und Nasen

■ Wenn ein britischer Ethnologe in den Spiegel guckt, sieht er mehr als sich selbst

Wann ist ein Engländer kein Engländer? Wenn er über Engländer schreibt. Gute Engländer erobern Kolonialreiche und lieben ihre Königin; wenn sie zu Hause bleiben, leben sie unbewußt und sehen unglücklich aus. Wenn ein Engländer über das eigene Land schreibt, kann folglich nur eine Ansammlung trauriger Reflexionen dabei herauskommen.

Nigel Barley, ein britischer Ethnologe, hat in der Vergangenheit Bücher darüber geschrieben, wie man Ethnologe ist, in Kamerun zum Beispiel. Jetzt hat er ein Buch darüber verfaßt, wie man keiner ist– indem man als Brite die Briten besichtigt. „Unsere eigene Kultur gleicht unserer eigenen Nase“, rechtfertigt er sein unmögliches Unterfangen. „Der Anthropologe, der daheim Feldforschung betreibt, muß entweder schreckliche Verrenkungen anstellen, um sich selbst zu sehen, oder – besser – versuchen, sein eigenes Bild im Spiegel der ,anderen‘ Kulturen, die er jahrelang studiert hat, zu entdecken.“

Das Buch „Traurige Insulaner“ ist eine Mischung aus Spiegelgucken und Verrenkung. Die Merkwürdigkeiten der Engländer werden beschrieben: wie sie in der Kneipe sitzen, wie sie heiraten, wie sie verreisen, wie sie ihre Häuser pflegen und wie sie sich beerdigen lassen. Der Blick ist fremd genug, um die Merkwürdigkeiten merkwürdig erscheinen zu lassen. Er ist gleichzeitig zu vertraut, um irgendeinen Grund zu liefern, warum man sich als Engländer eigentlich anders benehmen sollte. Wo doch die Frage, warum man sich als Engländer eigentlich so benimmt, schon rätselhaft ist.

Wer nie in England war, wird mit einem solchen Buch, dessen Thesen in seltener Unaufdringlichkeit daherkommen, kaum etwas anfangen können. Wer mit der englischen Kultur oberflächlich vertraut ist, findet hier die unentbehrlichen Einsichten, mit denen so manche Verhaltensmuster, die oberflächlich als Selbstverständlichkeiten daherkommen, in ihrer ganzen tiefschichtigen Absurdität erscheinen und so doch noch verstanden werden können. Wer Engländer ist, wird sich eher fragen, warum diese Verhaltensmuster, so seltsam sie in einer solchen Beschreibung anmuten, dem Versuch einer Erklärung ausgesetzt werden sollten, wo doch jeder weiß, daß es keine gibt.

Schade, daß kein Deutscher es wagt, sein eigenes Land aus ähnlicher Perspektive zu betrachten, ohne moralischen Zeigefinger oder anklagenden Imperativ. Schade, daß ein Deutscher vor allem dann Deutscher ist, wenn er über Deutsche schreibt. Das schwierige Land, das nicht einmal die Frage „Wie viele bin ich?“ beantworten kann, wäre für Nigel Barleys nächste Feldforschung ein ideales Terrain. Dominic Johnson

Nigel Barley: „Traurige Insulaner. Als Ethnologe bei den Engländern“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1993, 170 Seiten, 28 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen