Abwesende Kulturkonsumenten

■ „Ein Überlebender in Warschau“ — Konzert zur Erinnerung an den Ghetto-Aufstand im Bremer Dom, Dirigent: Wolfgang Helbig

Ein Konzert für „Toleranz und Menschlichkeit in unserer Zeit“ zu veranstalten, kann eine wohlfeile Angelegenheit sein. Ein Konzert zur Erinnerung an den Ghetto-Aufstand in Warschau 1943 zu machen, gehört zu den mutigeren Taten ausübender Musiker. Dies gilt im Kreise der E-Musik-Freunde durchaus als unschicklich. Musik und Völkermord ist ihm zu direkt, ebenso Musik und Hoyerswerda, Mölln, Solingen.

Das Programm, das Domkantor Wolfgang Helbig am Sonntag abend im Bremer Dom bot, war direkt. Im Zentrum stand ein 8-minütiges Werk von Arnold Schönberg. Eine Art Kurzkantate mit dokumentarischen Einsprengseln — dem im Sprechgesang vorgetragenen Bericht eines überlebenden Aufständischen aus Warschau. Schönberg — musikalisch ein radikaler Neuerer aus konservativem Traditionsbewußtsein — ist nicht der Prototyp des politischen Musikers. Dennoch, den Nationalsozialismus hat er mit zwei Werken von äußerster Ausdrucksstärke verarbeitet: Lord Byrons Ode an Napoleon, ein Hohn- und Spottgesang auf den großen Diktator, und der Bericht aus dem Ghetto.

Dieser zeigt eine kurze Momentaufnahme von dessen Ende. Gefangene Ghetto-Bewohner werden zur Hinrichtung geführt. Der SS-Feldwebel, eine urdeutsche Mischung zwischen Bürokrat und Sadist, zwingt sie zum Abzählen, er will den Vorgang ordnungsgemäß rapportieren können. Die Geschundenen finden über den Ordnungsterror zum Kollektiv. Sie gehen mit prachtvollem Gesang, einem Gebet an ihren Gott, aufrecht in den Tod.

Was in Hollywood-Holocaust-Kitschhätte enden können, erhält bei Schönberg zwingende Gestalt. Der authentische Bericht, kaum künstlerisch durchgearbeitet,wird durch ein großes Orchester szenisch unmittelbar präsent. Knappe Kürzel, die den altvertrauten, in der Musik so gerne naiv benutzten „Militärton“ benutzen, lösen sich mit äußerster Aggressivität aus dem Orchester und erzeugen eine beklemmende terroristische „Klangcollage“ ohne Hoffnung.

Doch das aus dem Zählapell erwachsende, vom Männerchor vorgetragene Gebet „Schemol Josrael“ zeigt nicht nur, daß die Angst der Todeskandidaten besiegt werden kann: in seiner Fremdheit zeigt es eine monumentale Kraft, aus der der Wille zum Widerstand wächst. In seiner Trostlosigkeit verweist dieses Chorfinale nicht auf höhere Gerechtigkeit, es formuliert entschieden „Nie wieder“.

Diese intensiven acht Minuten Musik brauchen ein besonderes Umfeld. Helbig umspielte sie mit Cherubinis Requiem in c-moll. Eine durchaus merkwürdige Verknüpfung, dient dies Werk doch dem Gedächtnis an Ludwig den XVI, dem König, den die französische Revoluton, deren musikalischer Propagandist Cherubini war, geköpft hat. Cherubini modifiziert und mäßigt die im Kampf um das Überleben der französischen Republik gewonnenen musikalischen Techniken und Klänge und verknüpft sie mit alten Traditionen. Ein Werk gescheiterter Hoffnung.

Als Übergang aus dieser musikalischen Welt schien den Veranstaltern die Lesung dokumentarischen Materials, darunter ein Bericht des SS-Polizeigenerals Stroop, notwendig zu sein. Celans Todesfuge mündete dann in Schönbergs Werk. Cherubinis machtvoll monotones Agnus Dei als Abschluß nahm einiges von der Schönbergschen Unerbittlichkeit zurück, gab aber Gelegenheit zur Verarbeitung des Erlebten.

Den Ausführenden des Abends ist großes Lob zu zollen. Der Dom-Chor sang wie immer klangschön und mächtig mit klarer idiomatischer Artikulation. Die Kammer-Sinfonie Bremen war mit großer Konzentration bei der Sache. Schönbergs Werk weitete sich unter Helbigs Dirigat und dem engagierten Einsatz der Männer des Chores zu einer großen Szene voll dramatischer Dichte. Cherubini allerdings verlor zuweilen seine Kanten und Brüche. Horst Breiter und David Safier lassen ihre Texte in präziser Spannung zwischen Kühle und innerer Bewegung, Berthold Possemeyer als „Überlebender“ setzte Schönbergs Sprechgesang überzeugend um.

Der Dom war keineswegs gefüllt: Bremens Kulturkonsumenten waren wohl durch das Celibidache-Konzert zu erschöpft. Der linksliberale bis alternative Adressatenkreis womöglich zu bequem. Mario Nitsche