: Kandidatenaufstellung der GAL, taz vom 14.6.93 / Olga Rabiata / Sommer '93
Die Wahlen zur Bürgerschaft der Hansestadt Hamburg werden im Spätsommer 1993 stattfinden. Das Bündnis 90 / Die Grünen hatte, nachdem am 5.6. eine Wahlaussage verabschiedet worden war, am 12./13.6. eine Mitgliederversammlung angesetzt, um die Liste der Bürgerschaftskandidaten festzulegen. Für diese Liste kandidierte erstmals ein Immigrant aus der sog. zweiten Generation, Mahmut Erdem.
Geboren wurde er 1963 in Gemerek/Kayseri/Türkei, 1965 Ermordung seines Vaters, 1966 Anwerbung seiner Mutter nach Deutschland, 1971 Einreise ihrer sechs Kinder; Schulbesuch in Hannover, Abitur 1983, Jurastudium in Göttingen, Schwerpunkte Ausländer-, Europa- und Verfassungsrecht, Einbürgerung 1989, Erstes Staatsexamen 1992, seit Herbst 1992 Promotionsstudium bei Prof. Dr. Rittstieg an der Uni Hamburg und Referandariat am Hanseatischen Oberlandesgericht; Mitglied des Bündnis 90 / Die Grünen; verheiratet, ein Kind
Erdem hatte lange gezögert sich zur Kandidatur aufstellen zu lassen, da es im Moment noch nicht in seine Lebensplanung paßte. Die schrecklichen Ereignisse der letzten Wochen ließen jedoch unter Immigrantinnen und Immigranten verstärkt die Forderung nach einer eigenen Vertretung ihrer Interessen auf der politischen Bühne laut werden und bewogen Mahmut Erdem, sich auf einen Listenplatz bei der GAL zu bewerben. Dabei erfuhr er in Gesprächen breite Unterstützung durch VertreterInnen verschiedener ImmigrantInnenorganisationen
Seine Kompetenz, die er seit längerer Zeit durch die Mitgestaltung der Ausländerpolitik der GAL-Fraktion bewiesen hatte, und seine langjährigen Erfahrungen aus politischer Arbeit in vielen Bereichen ließen ihn als durchaus aussichtsreichen Kandidaten auf einen relativ sicheren Listenplatz erscheinen.
In diesem Sinne wurde er auch von einigen bekannten Politikern ermutigt sich auf Platz 12 zu bewerben. In vorletzter Minute wurde jedoch ein altgedienter Gegenkandidat nominiert, der die meisten Stimmen erhielt.
Dann wurde er spektrumübergreifend aufgefordert, für Platz 18 zu kandidieren, da es für die Glaubwürdigkeit der Partei unbedingt notwendig sei, ihn auf ihrer Liste zu haben. Trotz dieser Beteuerungen wurden Gegenkandidaten aufgestellt, gegen die Mahmut Erdem in der Stichwahl verlor und sich daraufhin zurückzog. Dies geschah, obwohl langjährige Grüne aus dem „Realo“-Spektrum vor der Stichwahl dazu aufforderten, nicht gegen ihn kandidieren. Bemerkenswerterweise waren dies nicht die Personen, die sich in der Öffentlichkeit als die großen Anwälte der ImmigrantInnen gerieren — diese hielten sich dezent zurück.
Für uns, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, ist ein solcher Vorgang unverständlich. Gerade in dieser Partei wird seit längerer Zeit immer wieder behauptet, man vertrete besonders engagiert die Interessen der Immigrantinnen und Immigranten; es fielen Begriffe wie „Mitspreche“ und „Emanzipation“. Auch am Wochenende stellten viele RednerInnen die Immigrantenproblematik in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen, um in der momentanen Situation Punkte zu sammeln. Wenn sich jedoch ein kompetenter Immigrant bewirbt, scheint es wichtiger, die Reihen der Deutschen zu schließen und die eigenen Fleischtöpfe zu verteidigen.
Für uns stellt sich nun dringend die Frage nach der politischen und moralischen Glaubwürdigkeit dieser Partei, in der es ImmigrantInnen unmöglich gemacht wird, ihre eigenen Interessen selbst auf der politischen Bühne zu vertreten.
Olga Rabiata
Olga Rabiata ist ein autonomes Frauenwohnprojekt, in dem 18 Frauen und 6 Kinder kollektiv zusammenleben werden. Die aktuelle Wohnraumsituation, der konventionelle auf Kleinfamilien zugeschnittene Wohnraum sowie die städtische wohnungspolitik (Umgang mit Altbau-Leerstand etc.) verhindern größeren Gruppen kollektive Lebensm,öglichkeiten.
Für einen Neubau haben wir von der Stadt ein Grundstück gefordert und das Grundstück in der Fischersallee anhand gegeben bekommen. Die Stadt hat an dies Grundstück die Bedingung geknüpft, daß Olga Rabiata eine Kindertagesstätte mitbauen muß. Der Projektwohnraum wird als sozialer Wohnungsbau errichtet. Schaffung von Kindertagesstätten und von sozialem Wohnungsbau sind städtiscche Interessen.
Für Neubauprojekte entsteht allerdings eine typische Knebelsituation:
-wir sind gezwungen eine Kindertagesstätte zu bauen, obwohl dies Aufgabe der Stadt wäre
-wir leisten für den sozialen Wohnungsbau eine finanzielle Eigenbeteiligung von 15% (ca 440.000 DM) vor Baubeginn, obwohl wir alle Paragraph 4-Schein-berechtigt sind und für den Einzug auch sein müssen
-die Wohnungsbaukreditanstalt, die 85 % der Bausumme als langfristigen Kredit erteilt, fordert bei autonomen Projekten eine Bürgschaft über 40 - 50 % der Gesamtbausumme. Es wäre Aufgabe der Baubehörde diese Bürgschaft zu übernehmen, was in Einzelfällen auch schon geschehen ist. Im Moment übernimmt die Baubehörde keine weiteren Bürgschaften, was die geplante Realisierung der Wohnprojekte in Frage stellt.
Traute Müller „lobt“ zwar, daß in der Fischersallee „generationsübergreifendes Wohnen“ durchgesetzt werden könnte, die Realisierung müssen allerdings wir durchsetzebn, und dies bezeichnenderweise gegen den Widerstand der Stadt.
Sommer '93
Urin auf den Gassen
Das ist Gestank
Bäume, die grünen
Doch sie sind krank
Menschen in Straßen
Die sind braun
Wie damals '33
Heute wieder braun
Haß gegen Türken
Die Brände sind gelegt
Damals waren es Juden
vom Erdboden gefegt
Sommer '93
Was wird er bringen
Deutsch ist Deutsch
Und wieder wird es klingen
Wie damals
Wir sind unverbesserlich
Sommer '93
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