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Frau Professor Dr. Fritz

Eine Biografie der Chemikerin Clara Haber verfehlt leider Leben und Werk  ■ Von Ernst Peter Fischer

Im Mai 1915 erschoß sich die 45jährige Clara Haber, geborene Immerwahr, in Berlin mit der Dienstpistole ihres Mannes Fritz. Professor Dr. Fritz Haber, Chemiker und Nobelpreisträger, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Elektrochemie, ließ sich durch den Freitod seiner Frau nicht aufhalten: Es herrschte Krieg und er mußte an die Ostfront. Es galt, auch dort den Einsatz des von ihm entwickelten Giftgases zu überwachen, das er im April so erfolgreich an der Westfront eingesetzt hatte. Mit diesem Giftgas konnte Haber viele französische Soldaten aus ihren Gräben vertreiben und qualvoll sterben lassen.

Haber ließ die tote Clara mit dem dreizehnjährigen Sohn Hermann – der im Alter ebenfalls Selbstmord begehen wird – allein zurück, um zu tun, was er von einem Wissenschaftler in Kriegsjahren verlangte, nämlich: dem Vaterlande dienen.

Clara Immerwahrs überlegte Handlung – sie hatte zunächst einen Probeschuß in die Luft abgegeben und danach die Waffe auf ihr Herz gerichtet – folgte einer erregten Auseinandersetzung der Eheleute, deren Fortsetzung er sich durch ein Schlafmittel entzog. Haber hatte seiner Frau vorgeworfen, „ihm und Deutschland in der größten Not und Hilflosigkeit in den Rücken zu fallen“.

Während er nach dem ersten Erfolg beim militärischen Einsatz seiner Wissenschaft an der Westfront zum Hauptmann befördert worden war und nun in neuer Uniform glänzen wollte, verbreitete sie, die ebenfalls promovierte Chemikerin, in Dahlem, daß sie Giftgase und chemische Waffen für eine „Perversion der Wissenschaft“ hielt. Clara Haber mißbilligte mutig in aller Öffentlichkeit, was ihr Mann unternahm. Habers Ärger am Abend ihres Selbstmords richtete sich vor allem gegen diese Indiskretion – denn damit habe sie „das ohnehin so schwache Vertrauen des Militärs in seine Fähigkeiten so nachhaltig erschüttert“.

Diese Vorwürfe erträgt sie offenbar nicht mehr; sie setzt ihrem Leben ein Ende, das sie zu diesem Zeitpunkt schon längst als vertan betrachten muß. Claras Leben bekam die falsche Wendung, als sie dem langjährigen Bitten Habers, sie zu heiraten, schließlich nachgab. Sie war damals Anfang Dreißig. Während sie aber vorher eine ebenso fleißige wie ideenreiche Chemikerin war, die ihre Faszination durch die Wissenschaft auch in öffentlichen Vorträgen – etwa über „Chemie und Physik im Haushalt“ – einem Laienpublikum vermittelte und eine große Karriere vor sich hatte, war sie nach der Heirat „nichts mehr wert“, wie sie selbst schreibt.

Während er aufsteigt und Karriere macht, bleiben ihr das Aufhängen von Wäsche, die Versorgung der Küche und die Sorge um ein häufig kränkelndes Kind. Ihr „innerer Mensch“ entwickelt sich nicht mehr, wie sie selbst meint, und sie bittet ihre Freunde zu bedenken, daß alles, was Fritz gewinnt, bei ihr verloren geht.

Wer diese wenigen Andeutungen über das Ehepaar Clara und Fritz Haber liest, wer ungefähr die einstmals übermächtige Stellung Habers in der deutschen Wissenschaft beurteilen kann, wer an die Problematik des Gaskrieges denkt, wer den schweren Weg der Frauen zur Anerkennung nicht nur in der Wissenschaft vor Augen hat, wer sich vor allem das dramatische Lebensende von Clara Immerwahr vor Augen hält, der ahnt, welch einen Stoff ihr Leben bieten könnte, – vor allem angesichts der Tatsache, daß es weit und breit keine Biographie von Fritz Haber gibt. (Auf den Skandal der deutschen Geschichtsschreibung, der sich hier verbirgt, müßte gesondert eingegangen werden.) Hier wäre die große Chance, Clara Immerwahr aus dem Schatten ihres so schwierigen und unheimlichen Mannes herauszuholen – doch wie kläglich wird diese Möglichkeit vertan!

Das Buch von Gerit von Leitner über Clara Immerwahr ist sowohl inhaltlich als auch stilistisch unerträglich. Die Lektüre lohnt sich bestenfalls einiger Zitate aus den Briefen Clara Immerwahrs wegen, und erwähnt werden muß natürlich die oben geschilderte Auseinandersetzung mit ihrem Mann am Abend vor der Tat. Der Inhalt des Gesprächs war bislang unbekannt. Allerdings gibt die Autorin keine Quelle für ihre Version an, und der Leser fragt sich, wie verläßlich die Wiedergabe des Ehestreits ist, über den es sicher keinerlei schriftliche Aufzeichnung gibt. Einen vermuteten Abschiedsbrief von Clara Immerwahr hat niemand aufbewahrt.

Die Mängel des Buches können anhand einiger Beispiele rasch verdeutlicht werden. Vielleicht eher nebensächlich ist die Feststellung, daß an keiner einzigen Stelle sichtbar wird, was Clara Immerwahr an der Chemie nicht nur interessiert, sondern begeistert hat. Welche Ideen haben sie beschäftigt? Welche Ideen steckten überhaupt in der Wissenschaft ihrer Zeit? Was passiert eigentlich in der physikalischen Chemie, um die es Clara Immerwahr ging?

Die Autorin weiß es nicht, sie denkt darüber nicht weiter nach und begnügt sich statt dessen damit, den Titel von Claras Doktorarbeit zu zitieren und einige Disziplinen und Molekülnamen aufzuzählen. In ihrer Unkenntnis der Wissenschaft begeht die Autorin schließlich einen Fehler, der für eine überzeugte Frauenforscherin unverzeihlich ist: Es gelingt ihr tatsächlich, Lise Meitner immer noch zur „Assistentin“ Otto Hahns zu degradieren, die seine Messungen „weiterführt“, während Hauptmann Hahn mit Haber an der Front ist.

Völlig hilflos zeigt sich die Autorin auch der Frage gegenüber, was Habers Judentum etwa mit seinem fanatischen Patriotismus, seiner deutsch-nationalen Einstellung und seiner Anbiederung beim Militär zu tun hat. Ihr fällt zwar auf, daß auch Albert Einstein Jude ist, der mit Haber 1915 – zur Zeit des Gaskrieges – zusammen in einem Gebäude arbeitete, und daß Einstein, offenbar anders als Haber, mit seinem Judentum fertig wird, aber was macht Einstein anders? Er „stopft Wurst und Brötchen in seine Aktentasche und macht seine Bleistiftrechnungen auf das Einwickelpapier“.

Auf diese Weise wird der Leser oftmals abgespeist, wenn es um Clara Immerwahrs innere Entwicklung gehen sollte. Keine Zeile des Buches wird der Frage gewidmet, warum sie Haber erst nach langem Zögern geheiratet hat und was sie dann daran hinderte, ihn zu verlassen, als ihr klar wurde, daß sie in dieser Ehe verkümmern würde. So nach und nach verärgert den Leser auch, daß die Habers im Buch nur Fritz und Clara heißen. Vertraulicher Umgang mit seinen Helden ist riskant und muß beherrscht werden. Es liest sich natürlich hübsch, wenn Fritz um Claras Hand anhält und Verse für sie schmiedet, aber es ist bestenfalls peinlich, wenn nicht Haber, sondern Fritz mit den Generälen spricht und Gaskrieg führt. Und es ist unpassend, wenn ansonsten jeder Forscher mit seinem Titel erwähnt wird, denn nun treffen Fritz und Clara mit Professor Ostwald und mit der gnädigen Frau Professor Ostwald zusammen beziehungsweise nicht.

Die Gedankenlosigkeit der Autorin ist beispiellos. Da können Chemikalien etwas „willentlich“ tun (und nicht wir mit ihnen), da wird bei jeder sich bietenden Verlegenheit „geschmunzelt“, da werden Methoden zu einem Werk (statt einem Mittel) der Vernichtung, da müssen Tiere in (zugegeben überflüssigen Versuchen) „dran glauben“, da wird der Feind durch Gas „erledigt“ – und so weiter.

Vieles wird angedeutet, ohne fortgeführt zu werden. Wir werden etwa darüber belehrt, daß es das Schicksal der Frau zu sein scheint, „im Liebesleben einen tieferen Einsatz zu machen“, aber wie sehr Clara Fritz möglicherweise einmal geliebt hat, was Liebe bei Clara bedeutet, müssen wir uns dann selbst ausdenken.

Oftmals bemerkt die Autorin gar nicht, was sie zitiert, zum Beispiel Lise Meitners Brief an Otto Hahn, in dem sich die Physikerin Gedanken über den Gaskrieg macht. Meitner kann dem neuen Morden mit wissenschaftlicher Hilfe überraschenderweise einen positiven Aspekt abgewinnen, denn „vor Allem ist jedes Mittel barmherzig, das diesen schrecklichen Krieg abkürzen hilft“, wie sie – vielleicht als Trost für den Kollegen – schreibt.

Hier findet sich genau das Argument wieder, das die Amerikaner 30 Jahre später benutzt haben, um den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima zu rechtfertigen, und es stammt von einer Frau. Dies wäre doch eine Überlegung und eine Anmerkung wert gewesen. Doch von Leitner hält sich damit nicht lange auf. Sie macht es sich allzu leicht, und nahezu ohne Übergang redet sie wieder vom „Wahnsinn“ und vom „menschenverachtenden Denken“ der Wissenschaft. Differenzierung ist ihr Verfahren nicht.

Der erste Versuch, das Leben der Clara Immerwahr zu schildern, ist also völlig mißlungen. Ein Grund für dieses Scheitern liegt darin, daß die Autorin an den Naturwissenschaften keinerlei Interesse hat. Es mag noch so viele Perversionen dieser menschlichen Tätigkeit geben – Chemie und Physik haben einen intellektuellen Kern, und den muß man schätzen, um Clara Immerwahr verstehen zu können. Wer der Wissenschaft fremd und ablehnend gegenübersteht, dem wird Clara Immerwahr verschlossen bleiben. Ich vermute, daß wir uns beides nicht leisten können.

Gerit von Leitner: „Der Fall Clara Immerwahr“. C.H.Beck Verlag, München 1993, 231 Seiten, geb., 39.80 DM.

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