Eine Dialektik der Verklärung

Dokument intellektueller Anschmiegsamkeit: Lion Feuchtwangers apologetischer Reisebericht „Moskau 1937“ ist nach 56 Jahren neu erschienen  ■ Von Peter Walther

Im Sommer 1936 reist der französische Schriftsteller André Gide zur Beisetzung von Maxim Gorki nach Moskau. Gide hatte gerade ein Jahr zuvor, auf dem „Kongreß zur Verteidigung der Kultur“ in Paris öffentlich ein Bekenntnis zum Kommunismus abgelegt. Nun bekommt er die Sowjetunion zum ersten Mal mit eigenen Augen zu sehen. Seine Beobachtungen faßt er in einem Buch zusammen, dessen Titel mehr den geistig-politischen Ortswechsel als den geographischen markiert: „Zurück aus Sowjet-Rußland“.

Das ehrliche Dokument einer Desillusionierung, worin Gide – auf moderate Weise – einige der im Westen geläufigen positiven Vorurteile über die Sowjetunion korrigiert, trifft den Nerv der UdSSR- Sympathisanten. Ging es doch um mehr als nur eine Korrektur des schöngefärbten Bildes vom Arbeiter- und Bauernparadies. Die Bedrohung durch den deutschen Faschismus ließ in den Augen vieler Nazi-Gegner, auch wenn sie nicht Kommunisten waren, keine Kritik am stalinistischen System zu. Gleichzeitig aber begannen in der Sowjetunion die „Großen Säuberungen“, in deren Verlauf bis Ende 1938 ca. sieben Millionen Menschen in Lager und Gefängnisse gesperrt und etwa drei Millionen Menschen ermordet wurden. Die Position „weder Hitler noch Stalin“ schien damals unmöglich, da es die kommunistische Seite verstand, die Notgemeinschaft gegen den Faschismus auszunutzen, um jede Entscheidung gegen Stalin als eine Entscheidung für Hitler zu denunzieren.

Wenige Monate nach Gide, im November 1936, bereist Lion Feuchtwanger, der erfolgreiche deutsche Romancier („Die häßliche Herzogin“, „Jud Süß“), der 1933 nach Frankreich emigriert war, die Sowjetunion. Er wird mit allen Ehren empfangen, absolviert ein Programm mit Lesungen, nimmt als Zuschauer am „zweiten Trotzkistenprozeß“ gegen Radek, Pjatakow und andere teil und trifft zu einem mehrstündigen Gespräch mit Stalin zusammen. Auch Feuchtwanger schreibt seine Eindrücke in einem „Reisebericht für meine Freunde“ nieder, der im Amsterdamer Querido-Verlag unter dem Titel „Moskau 1937“ erscheint. Nach 56 Jahren ist der Text nun in einer Neuauflage des Aufbau-Taschenbuchverlags wieder zugänglich.

Feuchtwangers „Moskau 1937“ ist ein euphorisches Bekenntnis zum Experiment, „ein riesiges Reich einzig und allein auf der Basis der Vernunft aufzubauen“. Es ist das Buch eines Kollaborateurs aus Weltanschauung, der so ziemlich alle Mißstände in der Sowjetunion registriert, seine Wahrnehmung jedoch immer wieder in das Korsett vorgeprägten Wunschdenkens zwängt. Über seinen Begriff von Geschichte schreibt er im Vorwort zu „Moskau 1937“: „Ich habe Weltgeschichte nie anders ansehen können denn als einen großen, fortdauernden Kampf, den eine vernünftige Minorität gegen die Majorität der Dummen führt. Ich habe mich in diesem Kampf auf die Seite der Vernunft gestellt, und aus diesem Grund sympathisierte ich von vornherein mit dem gigantischen Versuch, den man von Moskau aus unternommen hat.“ Doch neben den zeitgeschichtlich und „konfessionell“ erklärbaren Gründen gibt es bei Feuchtwanger noch einen charakterlichen, der die Bereitschaft wachsen läßt, „taktische Wahrheiten“ zu akzeptieren – Eitelkeit. Anders als im Westen wird er von den Herrschenden ernstgenommen, freut sich über die große Resonanz seiner Bücher und darüber, sie „in den Sowjetbibliotheken zu wissen“. Viel genauer nachvollziehbar als die Beweggründe sind die Mechanismen, mit denen Feuchtwanger die eigene Wahrnehmung verbiegt.

„Moskau 1937“ ist von Anfang an als Gegenbuch zu Gides „Zurück aus Sowjet-Rußland“ angelegt. Feuchtwanger hatte dessen Buch in der Emigrantenzeitschrift Das Wort unter dem Titel „Der Ästhet in der Sowjetunion“ rezensiert. Sein eigener Reisebericht sollte den Schaden, der von Gides Buch ausging, begrenzen: Dieser taktische Charakter ist dem Buch auf jeder Seite eingeschrieben, er ist der eigentliche Grund für die Redseligkeit, mit der Feuchtwanger sich über die Voraussetzungen seines Urteilens erklärt, ebenso auch Grund für die akrobatisch wirkenden Versuche, sich in die Mißstände des sowjetischen Lebens einzufühlen.

Der Autor verfolgt dabei zwei grundlegende, sich zum Teil widersprechende Argumentationslinien: Zum einen läßt sich das Leben in der Sowjetunion nicht mit den westlichen Maßstäben messen, es ist von anderen Zielen und Antrieben bestimmt, zum andern kann das Lebensniveau des Westens in der Sowjetunion deshalb noch nicht erreicht sein, weil die Sowjetmacht gerade einmal zwanzig Jahre jung ist.

Allein, man versteht angesichts der Sowjetjugend „das Vertrauen der Sowjetbürger in ihre Zukunft, jenes Vertrauen, das ihnen über Mängel der Gegenwart hinweghilft“, wohingegen die „Luft, die man im Westen atmet, verbraucht und schlecht (ist). Es gibt innerhalb der westlichen Zivilisation keine Klarheit und Entschiedenheit mehr.“ In dieser Bewertung stimmt Feuchtwanger sowohl mit der nationalkonservativen Zivilisationskritik eines Oswald Spengler wie auch mit der Verachtung überein, die Kommunisten und Nazis gleichermaßen gegen die westlichen Demokratien beziehungsweise gegen die „Systemzeit“ hegten.

Noch frappierender ist eine andere Parallele. Bei der Beschreibung des Prozeßverlaufs gegen die sogenannten Trotzkisten entwirft Feuchtwanger eine modernistische Vision der Gesellschaft, die sich in ihrer mechanischen Unerbittlichkeit kaum unterscheidet von den zeitgenössischen Visionen Ernst Jüngers. Feuchtwanger schreibt: „Richter, Staatsanwalt und Angeklagte schienen nicht nur, sie waren durch einen gemeinsamen Zweck verbunden. Sie waren wie Ingenieure, die eine neuartige, komplizierte Maschine auszuprobieren hatten. Was alle zusammenhält, ist das Interesse an der Maschine, die Liebe zu ihr. Es ist dieses Grundgefühl, welches Richter und Angeklagte veranlaßt, so einträchtig zusammenzuarbeiten.“ Radek wird beschrieben, wie er lässig eine Zitronenscheibe in sein Teeglas wirft, umrührt und, während er die ungeheuerlichsten Verbrechen gegen die Sowjetmacht gesteht, in kleinen Schlucken trinkt. Welches Klima wirklich bei den Prozessen herrschte, verdeutlicht das Schlußplädoyer von Staatsanwalt Wyschinski: „Erschießt die tollgewordenen Hunde!“

Trotz des klaren Bekenntnisses zur Sowjetmacht ist Feuchtwanger stets bemüht, den Makel der Parteilichkeit aus dem Weg zu räumen. Das geschieht wahlweise entweder mit dem tautologischen Argument, daß man sich seiner Parteilichkeit nicht zu schämen brauche, wenn man ohnehin auf der Seite der Vernunft steht, oder aber mit einem „Rückfall“ in kritisches Denken, wenn vom eigenen Mißtrauen und eigenen Zweifeln die Rede ist, die sich angesichts der sowjetischen Wirklichkeit allerdings schnell in Euphorie auflösen.

Ein anderes Mittel Feuchtwangers, sich die mißliebige Wirklichkeit vom Hals zu halten, ist die Verharmlosung. Über die Meinungs- und Pressefreiheit in der Sowjetunion schreibt er, daß sie „lange nicht ideal bestellt“ sei: „Manche Schriftsteller haben schwer zu seufzen über die Gängelei“ – ein grober Euphemismus für die reihenweise Verhaftung, Folterung und Erschießung von Schriftstellern. Der entsprechende Verfassungsartikel zur Presse- und Redefreiheit (bei Feuchtwanger: „volle Schimpffreiheit“) sei „vorläufig noch nicht ganz verwirklicht“, bis dahin bleibe noch „ein Restchen Wegs“.

Wer bis hierhin noch nicht begriffen hat, worum es geht, wird vor eine kryptische Alternative gestellt: „Was ziehst du vor: daß die große Masse weniger Fleisch, Brot und Butter und du dafür mehr Schreibfreiheit oder daß du weniger Schreibfreiheit bekommst und die große Masse dafür mehr Brot, Fleisch und Butter?“ Auf diese oder auf weniger plumpe Weise soll der einzelne, etwa der „Ästhet in der Sowjetunion“, gegen das „schaffende Kollektiv“ ausgespielt werden. Mit einer Konsequenz übrigens, der sich Feuchtwanger selbst nie unterzogen hat.

Ein tragischer Irrtum Feuchtwangers, der selbst jüdischer Herkunft war, ist die Annahme, die jüdische Bevölkerung in der Sowjetunion sei entweder assimiliert oder in der Steppenlandschaft, die man ihr als autonomes Gebiet zugewiesen hatte, heimisch geworden. Als der latent vorhandene Antisemitismus (Stalin hatte schon 1907 ein Pogrom gegen die „jüdischen Menschewiki“ vorgeschlagen) Anfang der 50er Jahre in Gestalt des Antizionismus zum Ausbruch kam und jüdische Schriftsteller und Ärtzte als „Kosmopoliten“ entlarvt, verurteilt und erschossen wurden, wollte Feuchtwanger, nach dem Zeugnis von Ilja Ehrenburg, nicht daran glauben, daß Stalin Juden verfolge.

Kein Berichterstatter, sondern ein alles erklärender Vermittler ist der Autor des Reiseberichts „Moskau 1937“; die Distanz zum Vermittelten wird mühsam durch Redewendungen wie „es heißt“ oder „mir ist gesagt worden“ gewahrt. Feuchtwanger täuscht die Haltung des wohlwollenden Beobachters vor, tatsächlich jedoch ist er viel stärker befangen – auf eine Art, die Arthur Koestler treffend beschrieben hat: „Der Sympathisierende erfreut sich der offenbaren Überlegenheit des aufgeklärten Theisten über den doktrinären Katholiken. Aber die Wurzeln des einen Glaubens sind so irrational wie die des anderen“.

Lion Feuchtwanger: „Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde“, Aufbau-Taschenbuchverlag, Berlin 1993, 142 S., 16,80 DM

(Wer mehr über Feuchtwangers Reise wissen will, halte sich an die Studie von Karl Kröhnke: „Lion Feuchtwanger. Der Ästhet in der Sowjetunion. Ein Buch nicht nur für seine Freunde“. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 1991)