: Das Leben, ein unendlicher Flirt
Eine neue Biographie des verschrobenen Schweizer Schriftstellers Robert Walser ■ Von Michael Bienert
Je näher man ihn ansieht, desto ferner sieht er zurück. Robert Walser hat das Spiel mit der autobiographischen Neugier der Leser auf die Spitze getrieben (und wurde so zum Liebling der jüngsten, von Zweifeln am Subjekt erschütterten Germanistengeneration): Seine Prosa lenkt alle Aufmerksamkeit auf ein Ich, das ganz in sein eigenes manisches Sprechen versponnen scheint, das sich klein und kindlich gebärdet, nur um sich desto entschiedener in den Mittelpunkt zu setzen. Schaut her, so zart, frech, traurig, munter, lächerlich und wild bin ich, scheint es zu rufen, wenn es seine Sprachpirouetten dreht. Doch kaum fühlt es einen teilnahmsvollen Blick auf sich ruhen, streckt es dem Betrachter die Zunge heraus, konfrontiert ihn mit einer schwindelerregenden Banalität, gibt ihm zu verstehen: Du kriegst mich nicht zu fassen. Denn alles ist nur ein (Sprach-)Spiel.
Dieses Ich will geliebt werden, aber nicht gebunden; betrachtet, aber nicht erkannt. „Nichts ist mir angenehmer als Menschen, die ich in mein Herz geschlossen habe, ein ganz falsches Bild von mir zu geben“, schreibt Walser, und: „Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.“
Ehe er sich ganz aufs Schreiben verlegte, hatte Walser Schauspieler werden wollen. Da er sich für die Bühne als untauglich erwies, lebte er seine Lust am Rollenspiel auf dem Papier aus – und im Leben. Von dieser Beobachtung ausgehend hat die französische Germanistin Cathérine Sauvat Walsers Biographie neu geschrieben. Sie versucht nicht, den Autor und seine Entwicklung irgendwo hinter den Maskeraden dingfest zu machen, sondern in den Verwandlungen, die sein Leben wie sein Werk als Konstanten durchziehen. Entsprechend sind die Kapitel überschrieben: „Das Kind“, „Der Kommis“, „Der Schauspieler“, „Der Diener“, „Der Dichter“, „Der Spaziergänger“, „Der Wahnsinnige“.
Es gibt wenige Autoren, deren Leben so gut, beinahe lückenlos dokumentiert ist wie das Robert Walsers. Wir verdanken das vor allem Carl Seelig, Walsers Vormund und „Eckermann“ in den letzten Jahren, die Walser stumm und fast völlig vergessen in einer Irrenanstalt fristete. Als Seelig fünf Jahre nach Walsers Tod starb, hinterließ er die Materialsammlung und das angefangene Manuskript zu einer Biographie seines Mündels. Auf dieser Grundlage erarbeitete Robert Mächler eine 1966 veröffentlichte „dokumentarische Biographie“, die vor allem die Funktion hatte, die Lebenszeugnisse möglichst umfassend und im Wortlaut zugänglich zu machen.
Seitdem sind zwei kommentierte Gesamtausgaben erschienen, eine Briefauswahl, Transskriptionen des lange für unentzifferbar gehaltenen „Spätwerks“ (der Mikrogramme) und ein Berg germanistischer Sekundärliteratur. Andere Autoren verschwinden hinter dem Gedruckten: Bei Walser wird alles zum Element einer märchenhaften Lebensgeschichte, die über den physischen Tod hinaus dauert. Leben und Werk, Leben und Rezeption sind unlösbar verflochten.
„Alles, was Schriftsteller Walser ,später‘ schrieb, muß von demselben ,vorher‘ endlich erlebt werden“, heißt es in „Walser über Walser“. Und wer immer Walser liest und liebt, der liebt „den Walser“ mehr als einzelne Texte und Figuren – wie einen Schauspieler, den man nicht seiner Verwandlungsfähigkeit wegen schätzt, sondern wegen der Unverwechselbarkeit in wenigen charakteristischen Rollen.
Dieser Einmaligkeit spürt Cathérine Sauvat in ihrem biographischen Essay nach, kreist sie behutsam ein, ohne eine definitive Erklärung, Enthüllung, Bewertung anzustreben. Sie entwirft kein Bild, sondern macht Lebenslinien sichtbar, an denen der Leser selbständig weiterdenken kann. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie Walsers problematischer Mutterbeziehung, in der man – wenn man will – eine Erklärung für Walsers tiefe Bindungsangst finden kann. Sie war ein Grund für seine Mißerfolge im Leben. An Angeboten von Gönnern, an Zuwendung von Frauen hat es Walser nicht gefehlt. Doch er hat alle, die er durch sein Wesen bezauberte, irgendwann durch schroffe Entgleisungen brüskiert. Er sträubte sich gegen Liebesbindungen, die einen festen, verpflichtenden Charakter hätten annehmen können. Robert Walsers Verhältnis zu Frauen, Freunden, Orten, zur Wirklichkeit überhaupt blieb immer spielerisch, immer unverbindlich: ein unendlicher Flirt.
Die letzten 27 Jahre, von 1929 bis 1956, hat Walser in den Irrenanstalten Waldau und Herisau verbracht. War er wirklich so krank, daß er eingewiesen werden mußte, oder hat er sich bewußt in dieses letzte Asyl geflüchtet?
Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen beiden Extremen der Interpretation. Dieses Feld leuchtet Cathérine Sauvat vorsichtig aus, ohne sich auf eine These festzulegen. Belegbar ist, daß sich Walser zum Zeitpunkt der Einweisung in einer seelischen Notlage befand. Niemand aus der Familie war bereit, für ihn zu sorgen. Er wurde in die Klinik abgeschoben. Dort erklärte man ihn für „schizophren“.
Walsers Zustand besserte sich in der Anstalt. Er kam mit ihren starren Spielregeln leichter zurecht, als mit den ungeschriebenen Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens. Vieles spricht dafür, daß sich Walser am Ende für die Anstalt als Exil entschieden hat und daß er das Schicksal Hölderlins bewußt imitierte.
Einen „Reigen um das Unsagbare“ nennt Cathérine Sauvat Walsers Prosa, eine Formel, die auch für sein Leben gilt. Sie legt keine neue Theorie über Walser vor, auch nicht die kritische, 25 Jahre Walser-Forschung summierende Biographie, auf die die Germanisten warten. „Vergessene Weiten“ wurde für das französische Lesepublikum geschrieben. Helmut Kossodo, der Verleger der ersten Gesamtausgabe, hat es in ein geschmeidiges Deutsch übertragen, dem nicht anzumerken ist, daß es sich um eine Übersetzung handelt. Behutsam, wohldurchdacht und mit Vergnügen lesbar – die Walser-Leser werden an dieser Biographie ihre Freude haben.
Cathérine Sauvat: „Vergessene Weiten. Biographie zu Robert Walser“. Aus dem Französischen von Helmut Kossodo. Verlag Bruckner&Thünker, Köln und Saignelégier 1993, 330 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, geb., 44 DM
Robert Mächler: „Das Leben Robert Walsers. Eine dokumentarische Biographie“. Vom Verfasser durchgesehene und ergänzte Ausgabe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1992, 280 Seiten, zahlreiche Abbildungen, geb., 28 DM
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