■ Wiederaufführung eines Klassikers der Kriminalgeschichte
: Dr. Crippen ist wieder da!

London (taz) – Selbst über 80 Jahre nach seiner Hängung läßt einer der weltbekanntesten Mörder den britischen Behörden noch immer keine Ruhe. Nach der Veröffentlichung von Dokumenten durch das Londoner Innenministerium erzeugt der berüchtigte Dr. Hawley Harvey Crippen den BritInnen erneut eine Gänsehaut – diesmal aus Mitleid.

Wenige Stunden vor seinem Gang zum Galgen, so enthüllen die Papiere, die seit 1910 geheimgehalten wurden, beging der Arzt in seiner Zelle im Londoner Gefängnis Pentonville einen Selbstmordversuch, um seine Unschuld zu bekunden. Das Gericht hatte Crippen für schuldig am Mord an seiner Frau Cora befunden, die er erst vergiftet und dann im Keller seines Londoner Hauses vergraben haben soll. Bis heute ist die Öffentlichkeit über seine Schuld geteilter Meinung. Die nachträglich veröffentlichten Unterlagen enthalten unter anderem den Bericht eines Gefängnisaufsehers, der den Verurteilten bei seinem Versuch, sich das Leben zu nehmen, ertappt hatte. Crippen hatte demnach seine Brille zerbrochen und versucht, sich mit den Scherben Schnittwunden zuzufügen. Offenbar wollte er lieber verbluten, als in Ungnade zu hängen.

Cora Crippen war zum letzten Mal am 31. Januar 1910 gesehen worden. Skeptisch über die Erklärungen des Arztes, seine Frau sei zu Verwandten nach Amerika gereist, hatten Freunde schließlich Scotland Yard alarmiert. Doch da befand sich der 48jährige Doktor zusammen mit seiner Sekretärin Ethel Le Neve bereits auf hoher See – auf dem Schiff „Montrose“ mit Kurs auf Quebec. Obwohl Le Neve sich als Junge verkleidet hatte, schöpfte der Kapitän des Schiffes Verdacht und informierte über das Radio die Polizei. Es war das erste Mal in der Geschichte, daß ein elektronisches Medium eine Rolle bei einer Verbrechensfahndung spielte. Für das Paar endete damit die Reise. Wenige Monate später klappte Scotland Yard den Deckel der Akte Crippen zu.

Erst jetzt aber kommen wichtige Dokumente ans Licht, die Crippens erbittertes Gnadengesuch unterstreichen. Bis zum Schluß hatte er steif und fest behauptet, bei den menschlichen Überresten in seinem Keller handle es sich nicht um die Leiche seiner Frau. Tatsächlich wurde Cora Crippen niemals identifiziert. Die jetzt veröffentlichen Papiere zeigen, daß der Arzt mit seinem Protest nicht alleine stand. Unter den zahlreichen erhaltenen Briefen ist auch der eines Chemikers, der Crippen zum Opfer seiner Frau und deren Liebhaber, Bruce Miller, erklärt. Für das Gift in den menschlichen Überresten, so sein Verdacht, könnte Frau Crippen selbst gesorgt haben. Auch die Art der Konservierung der Leiche deute nicht auf die Praxis eines erfahrenen Arztes hin.

Ein anderer Brief trägt den Absender Cora Crippens aus Chicago. Seine Ankunft hatte, zwei Tage bevor Crippen gehängt wurde, viel Verwirrung und Aufregung gestiftet. Doch Schrift-Experten hatten ihn schließlich als Fälschung erklärt.

Für einen weiteren Schuß Melodramatik in das ungelöste Geheimnis sorgt ein anderer Brief, den Crippen an seine Sekretärin geschrieben hat und der dem Daily Chronicle zugespielt wurde. Das Schreiben endet mit den Worten: „Im Angesicht Gottes, vor dem sich meine Seele bald dem letzten Gericht stellen wird: Ich beteuere auch weiterhin meine Unschuld.“ Antje Passenheim