■ Noch leben in Sarajevo, der kosmopolitischen Metropole Bosniens, Muslime, Kroaten und Serben zusammen
: Das Schreckgespenst der „Säuberung“

Halb öffentlich, halb geheim werden in Sarajevo Warnungen ausgegeben: Der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas droht das Schreckgespenst der „ethnischen Säuberung“. Der erste Protest kam von Mitgliedern des „Serbischen Konsultationsausschusses“, einer parteilosen Organisation angesehener Serben in Sarajevo. Hinter verschlossenen Türen teilten sie dem Vorsitzenden des Staatspräsidiums, Alija Izetbegović, mit, daß im Bezirk Stari Grad sechs bis sieben Fälle von Entführung, Verschwinden oder sogar Ermordung von Serben registriert wurden. Auch der bosnische Polizeiminister, Bakir Alispahić, wurde unterrichtet, der daraufhin garantierte, jeden einzelnen Fall detailliert zu untersuchen und die Ergebnisse zu veröffentlichen.

Die nächste Warnung war öffentlich: Miro Lasić, Mitglied des Staatspräsidiums, teilte mit, in Sarajevo seien auch Kroaten bedroht. Es gebe Fälle von Entführungen und Ermordungen, man fange kroatische Bürger für „Sklavenarbeiten“ ein und verfolge sie auf die unterschiedlichsten Arten. Auch im Bezirk Novi Grad, in der „Helden“-Siedlung Dobrinija, seien „ethnische Säuberungen“ registriert worden. Nachdem Dobrinija gerade dank der Solidarität der Bewohner die längste Periode der Besatzung und Isolation überlebt hatte, war dort während eines Fußballspiels eine Granate explodiert. Nach der Explosion, die 15 Menschen tötete und viele schwer verletzte, verbreitete sich das Gerücht, irgend jemand aus Dobrinija habe der serbischen Artillerie den Austragungsort des Spiels verraten. Verdächtigt wurde die lokale serbische Bevölkerung.

Es folgten Hausdurchsuchungen und Verhöre. Angeblich wurden gar Serben, die in den Einheiten der Armee Bosnien-Herzegowinas seit Beginn der Belagerung Sarajevos die Siedlung verteidigten, entlassen oder aus der ersten Frontlinie entfernt. Hat nun auch Sarajevo, das trotz des 15monatigen systematischen Terrors durch die serbischen Aggressoren allen Versuchen der ethnischen Teilung Widerstand geleistet hat und als Oase nationaler und religiöser Toleranz, ja sogar beispielhafter Solidarität seiner Bewohner gegolten hat, begonnen, die „Realität“ der Milošević-Tudjmans und Karadžić-Bobans zu akzeptieren? Ist ein gemeinsames Leben wirklich „unmöglich“ und somit die beste Lösung für Bosnien-Herzegowina eine Teilung in drei ethnisch definierte Staaten?

Der Druck zur Durchsetzung dieser Logik ist zweifellos groß. Und schon beginnen auch muslimische Kreise, die Regierung, die Armee und all diejenigen, die unter dem Druck der vereinten serbischen und kroatischen Extremisten (die schon vor Zeiten ihre „Serbische Republik“ und das kroatische „Herceg-Bosna“ ausgerufen haben) zu leiden haben, sich mit der Perspektive eines muslimischen Zwergstaates in Zentralbosnien abzufinden. Die Denkweise dieser Menschen ist folgende: Wenn Banja Luka serbisch werden konnte, obwohl dort nur 49 Prozent Serben lebten, und wenn Mostar kroatisch werden konnte, obwohl dort nur 29 Prozent Kroaten lebten, warum sollte Sarajevo dann nicht muslimisch werden, da dort vor Kriegsbeginn 50 Prozent der Bevölkerung muslimisch waren?

Menschen wie diese haben vielleicht tatsächlich die vom „Serbischen Konsultationsausschuß“ und von Miro Lasić aufgezeigten Verbrechen verübt. Vielleicht haben sich an diesen Verbrechen auch die Mitglieder jener Einheiten der Armee Bosnien-Herzegowinas beteiligt, deren Kommandant Rasim Delić dieser Tage verkündete, daß „sie außerhalb des Systems und der Kontrolle der Armeekommandantur“ agieren würden.

Polizei und Armee müssen dringend all diese Einzelfälle ethnischer Gewalt untersuchen, bevor das Schreckgespenst der „Säuberung“ sich in der Baščaršija, im historischen Zentrum Sarajevos ausbreitet. Dies fordert auch der Staatsrat für Verfassungsschutz. Sollten diese Untersuchungen nicht stattfinden, sollten gar diejenigen, die die Verfolgungen von Serben und Kroaten in Sarajevo zu verantworten haben, nicht vor Gericht gebracht werden, so werden die muslimischen Extremisten genau das erreichen, was auch Karadžić und Boban wollen: Sie werden beweisen, daß ein gemeinsames Leben von Menschen unterschiedlicher Religionen und Nationalitäten und somit ein multiethnisches, multireligiöses und multikulturelles Bosnien-Herzegowina nicht möglich ist.

Eine andere Sache ist, daß weder Karadžić noch Boban noch Repräsentanten wie Lasić das Recht haben, als Beschützer der Serben und Kroaten Sarajevos aufzutreten. Denn die hiesigen Serben wie auch die Muslime und Kroaten werden gerade von Karadžić' Artillerie und Scharfschützen nicht nur bedroht, sondern ermordet, massakriert und terrorisiert. Die hiesigen Kroaten werden wie alle übrigen Bewohner Sarajevos von Bobans „Herceg-Bosna“ und Karadžić' „Serbischer Republik“ bedroht und erniedrigt, deren Milizen auf „ihren“ Wegen die Lebensmittel- und Medikamentlieferungen für Sarajevo überfallen und ausrauben und die Durchfahrt von Konvois mit humanitären Hilfslieferungen verbieten. Karadžić und Boban sind auch die Verantwortlichen für die Klassifizierung der Serben und Kroaten zu Bürgern „zweiter Klasse“ in Städten mit muslimischer Mehrheit, denn gerade sie propagieren getrennte serbische, kroatische und muslimische Staaten, in denen es für die „anderen“ eng wird. All diejenigen aber, denen der Erhalt Bosnien-Herzegowinas als Staat am Herzen liegt, müßten wissen, daß dieser Staat auch durch die Verteidigung der kosmopolitischen Tradition der Toleranz und des gemeinsamen Lebens in Sarajevo bewahrt bleibt. Trotz aller Teilungsversuche. Kemal Kuspahić

Chefredakteur der in Sarajevo erscheinenden Tageszeitung 'Oslobodjenje‘ (Übersetzung aus dem Serbokroatischen: Ana Prokić)