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Mittwochsblick

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Nachdem nun sämtliche Skulpturen am Rathaus (dem älteren) restlos ausgedeutelt sind, seit Herr Dr. Albrecht sein dickleibiges Werk dem Herrn Wedemeier vorlegte (vgl. taz vom 17.7.), gilt es jetzt die rätselhaften Figuren am neuen Rathaus zu ergründen. Direkt vor Wedemeiers Nase, rings um das Fenster des noblen „Hansa-Zimmers“, prangt nämlich steinerner Bauschmuck, der den Vergleich mit dem mittelalterlichen Gepränge am alten Rathaus kaum zu scheuen bräuchte.

Für jeden Passanten deutlich sichtbar, sticht dieses Skulpturen-Ensemble vom übrigen Zierrat der Neubau-Fassade von 1906-13 ab. Um nicht den „Wunderbau des alten Rathauses“ zu übertrumpfen, war der Bildhauer Prof. J. Seidler zwar seitens der Bürgerschaft zu größter hanseatischer Zurückhaltung angehalten. Recht lieb- und belanglos bestückte er die Südostfassade also mit „Gestalten aus der biblischen Geschichte, mit Riesen, Waldmenschen, Musikanten, Hirten und spielenden Kindern", wie der Chronist, der Baurat Ehrhardt, seinerzeit schon mit trefflicher Langeweile auflistete.

Aber dann: das Hanse-Zim

hierhin bitte das

Foto von dem alten

Fenster

mer, direkt über dem Haupt- Portal. Mit trefflicher Symbolik wählte der Bildhauer hier nicht Geringeres als den „Sündenfall“ zum Thema. So stehen der Erste Mensch samt Anhang dem Ersten Bürger Bremens vor Augen, als mahnendes Beispiel.

Mit Adam nämlich identifiziert die christliche Ikonografie bekanntlich „die Phänomene des Gewissens, der Vernunft, der Freiheit, der Verantwortung und der Selbständigkeit.“ Die Schlange? „Symbol durchdringenden Wissens und der Allgegenwart“. Der Adler droben, überm Fenster, steht für „geistige Höhe“ und ist nebenbei „Träger göttlicher Majestät“.

Aber dann: die dralle Sphinx im Fenstersturz — Zeichen für „hieratische Unbeweglichkeit“. Und Eva? Die alte Sünderin und Verderberin? Auf sie sollte der OB besonders schauen. Nicht, um sie vorschriftsmäßig zu verdammen und die Sünde weit von sich zu weisen, wie es die Bibel lehrt. Sondern, um sich selbst gewissen- und büßerhaft zu befragen. Denn schließlich, so ist's Konsens unter Künstlern, Hobby-Ikonografen und Symboldeutern, „wird die Schuld über das Geschöpf auch dem Schöpfer selbst angelastet.“ tom

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