: Rominger, der verdächtige Alliierte
Induráin fuhr auch auf der ersten Pyrenäenetappe gemütlich das Gelbe Trikot ins Ziel ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Einen ruhigen Tag auf dem Fahrradsattel verbrachte Miguel Induráin während der 15. Etappe der Tour de France, die über drei Pyrenäenberge der ersten Kategorie führte. So nachhaltig hat er seine Konkurrenten eingeschüchtert, daß diese weder am Jau (1.513 m) noch am Envalira (2.407 m) noch beim abschließenden Aufstieg nach Pal Andorra (1.870 m) ernsthaft versuchten herauszufinden, ob der seit einigen Tagen 29jährige Spanier tatsächlich so unerschütterlich ist, wie er immer aussieht. In Ehrfurcht erstarrt, radelten sie dem Gelben Trikot fast siebeneinhalb Stunden brav hinterher und schienen ihrerseits heilfroh, daß Induráin sich damit begnügte, gegen Ende ein wenig die Muskeln spielen zu lassen, einen mächtigen Antritt aber alsbald wieder abbrach.
Das sonst so rührige Bergteufelchen Claudio Chiappucci war, aller Chancen auf einen vorderen Platz beraubt, so passiv wie lange nicht mehr. Der Kolumbianer Alvaro Mejia, zweiter im Gesamtklassement, schien zwar überhaupt keine Mühe zu haben, jedes Tempo mitzugehen, ließ aber nicht den mindesten Ehrgeiz erkennen, dem Spitzenreiter ein Schnippchen zu schlagen. „Es ist unmöglich“, sagt er schlicht, „er ist stärker und mir fehlen die Kräfte.“ Ähnlich sieht es Pechvogel Tony Rominger, dem am letzten Freitag schon wieder ein Malheur ereilte, als er sich bei einem Sturz den Knöchel verletzte, der sich prompt entzündete. „Tony hat eine Hundelaune“, berichtete sein sportlicher Leiter Juan Fernández, „es scheint, als hat uns bei dieser Tour jemand den bösen Blick zugeworfen“. Der Schweizer begnügte sich auf der 231,5 km langen Etappe mit einem halbherzigen, schnell abgefangenen Vorstoß zwei Kilometer vor dem Ziel. Er hat sich seine spärlichen Trümpfe möglicherweise für heute oder morgen aufgehoben, wenn es über die berüchtigten Pässe von Peyresourde, Tourmalet und Aubisque geht, ideales Terrain für eine letzte verzweifelte Attacke auf Induráin.
Die vor Beginn der 80. Frankreich-Rundfahrt so häufig beschworene Anti-Induráin-Koalition der Topfahrer ist jedenfalls geplatzt, bevor sie überhaupt richtig zustande kam. „Man hätte ihn viel mehr angreifen müssen“, hatte der fünffache Toursieger Bernard Hinault schon nach den Flachetappen gesagt. Doch Induráin hatte die Lage allzeit im Griff und schaffte es in den Alpen sogleich, ausgerechnet die stärksten seiner Rivalen wie Rominger und Mejia in treue Verbündete zu verwandeln – ein mächtiges Bündnis, das die anderen Protagonisten von Zülle über Breukink bis Bugno in tiefe radsportliche Verdammnis stürzte. Der Lohn für die Kooperationsbereitschaft bestand im Falle Rominger in Etappensiegen, eine Großzügigkeit, die vor allem den spanischen Radsportfans nicht ganz einleuchtet. Sie wollen, daß ihr Idol nicht nur die Tour, sondern auch im großen Stil Etappen gewinnt. Der nüchterne Taktiker Induráin aber hat wenig Sinn für spektakuläre Aktionen á la Chiappucci, ihn interessiert nur der Gesamtsieg, und um diesen zu erreichen, spart er Kräfte, wo es nur geht. „Es gibt Fahrer wie Miguel, die Kraft und Intelligenz haben“, erläutert Induráins Teamchef Jose-Luis Echávarri, „es gibt andere wie Pedro Delgado, die Intelligenz und weniger Kraft besitzen, und es gibt andere mit viel Kraft und nicht so viel Intelligenz, wie Chiappucci.“
So ist es kein Wunder, daß Induráins große Widersacher der letzten beiden Jahre, Chiappucci und Bugno, diesmal keine Rolle spielen, während „der Unberührbare“ (Hinault) die Tour ungefährdeter denn je dominiert. „Die Rivalen haben sich geändert. Es ist sehr hart, Jahr für Jahr in Topform zu sein,“ verabschiedet er sich ohne allzu großes Mitleid von seinen alten Kontrahenten und wendet sich den neuen zu, von denen ihm nur Rominger, dem er nicht recht über den Weg traut, noch ernsthafte Sorgen bereitet. „Er macht mir die Sache schwer und seine Mannschaft arbeitet gut. Ich würde einen anderen Alliierten vorziehen.“ Auch auf der 15. Etappe, die der Kolumbianer Oliverio Rincón gewann und bei der Olaf Ludwig wegen einer Magenverstimmung die Tour aufgeben mußte, war Rominger im Ziel wieder vor Induráin und erspurtete sich den zweiten Platz.
Gestern gab es einen Ruhetag, Gelegenheit für den Schweizer, frische Kräfte zu schöpfen, um heute und morgen doch noch einmal die wundersame Verwandlung vom Alliierten Induráins in dessen personifiziertes Verhängnis zu probieren. Es sei denn, Rominger ist inzwischen der Himmel von Andorra auf den Kopf gefallen.
Gesamtklassement: 1. Induráin 71:50:08 Stunden, 2. Mejia 3:23 Minuten zurück, 3. Jaskula 4:45, 4. Rominger 5:44, 5. Rijs 10:26, 6. Andrew Hampsten (USA) 13:30, 7. Chiappucci 14:11, 8. Johan Bruyneel (Belgien) 14:54, 9. Wladimir Pulnikow (Ukraine) 15:08, 10. Pedro Delgado (Spanien) 16:09, ... 26. Bölts 31:46, 48. Aldag 57:53, 57. Heppner 1:05:59
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen