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Der Appendix von Rudolf Ditzen

Hans Fallada, vor hundert Jahren geboren: Ein Schriftsteller mancher Verbiegungen, der uns heute fehlt  ■ Von Elke Schmitter

Da läßt sich ein Schriftsteller, ein guter zumal, für das Falsche im Richtigen bedrängen: eine Auftragsarbeit soll er machen, den ersten Widerstandsroman der Deutschen schreiben, eine gute Tat der Umerziehung auch an sich selber begehen. Der Schriftsteller, wohl wissend: daß er in den vergangenen 13 Jahren der „inneren Emigration“ der Reichsschrifttumskammer nicht immer gleichermaßen unerwünscht war, daß es ihm am guten Willen zum Bösen nicht immer gänzlich gefehlt hatte, daß er folglich hier die Chance erhält, sich reinzuschreiben – der Schriftsteller sagt zu, obwohl der Stoff „nichts her gab“ und „zu trocken war“ für die gewohnte Länge „von vierhundert Schreibmaschinenseiten“: „Im Oktober des Jahres 1945 gab mir ein Bekannter einen schmalen Akt in die Hände, Akten der Gestapo gegen ein Berliner Arbeiter-Ehepaar. Die beiden schon ältlichen Leute hatten plötzlich im Kriege angefangen, Postkarten mit Aufrufen gegen Hitler zu schreiben,... Und diese Karten hatten sie in den Treppenhäusern sehr begangener Geschäftsbauten niedergelegt. Das war so zwei Jahre gut gegangen, dann war der Mann durch die Gestapo erwischt worden, nach ihm die Frau, es folgte das unvermeidliche Verfahren vor dem Volksgerichtshof und das Todesurteil, das dann im Jahre 1942 an beiden vollstreckt wurde.“

Bei dem Bekannten, der Fallada den Stoff andient, handelt es sich übrigens um Johannes R. Becher, Präsident des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“, gerade zurück aus dem Moskauer Exil und schwer beschäftigt mit dem, was man damals und heute schon wieder „geistige Erneuerung“ nennt. Die sah in diesem Falle so aus, daß der Schriftsteller Becher dem Kollegen Fallada erstens eine Akte in die Hand gab, auf daß der einen volkstümlichen und zugleich politisch korrekten Roman daraus schreibe, und daß er zweitens diese Akte nicht vollständig übergab, weshalb der Schriftsteller Fallada niemals erfuhr, daß seine makellosen beiden Arbeiterhelden Anna und Otto Quangel nicht aufrecht, sondern ganz schief in den Volksgerichtshoftod gingen ... So daß drittens aus dem der geistigen Erneuerung gewidmeten Versuch, aus einer Gestapo-Akte eine wahre Geschichte zu machen, eine doppelte Fälschung wurde – die sich beiläufig erst an die fünfzig Jahre später klärte, weil diese Form der Geschichtsschreibung von oben selbst nicht wiederum Gegenstand der Historie werden sollte.

„Wenn er jetzt wüßte“, sagt heute seine ehemalige Pflegerin und Krankenschwester, „daß sein ,Jeder stirbt für sich allein‘ auf einer falschen Dokumentenbasis stand – daß diese Typen ja in Wirklichkeit ganz anders waren. Daß man ihm die Akten gar nicht vollständig gegeben hat. Daß die sich zum Schluß ja immer gegenseitig beschuldigt haben – also, als ich das gelesen habe, hab ich geheult.“

Dabei ist das längst nicht alles, was daran zum Heulen ist: Gerade eher nüchtern veranlagten Menschen könnten die Tränen kommen, wenn sie erfahren, daß die 75.000 Mark Inflationshonorar, das der Aufbau-Verlag für diese Aufbaugeschichte zahlt, zum größten Teil in einhundert Ampullen Morphium umgesetzt wurden, und zwar von Falladas süchtiger zweiter Frau. Und daß der ebenfalls süchtige Schriftsteller mit diesem Honorar für seinen letzten Roman sein Ende beschleunigt hat, daß es aber vermutlich auch ohnedies nicht mehr lange hätte auf sich warten lassen, trotz der guten Vorsätze noch im Hilfskrankenhaus Blankenburger Straße: „Irgend etwas in mir“, schreibt der Todkranke an seine Mutter, „ist nie ganz fertig geworden, irgend etwas fehlt mir, so daß ich kein richtiger Mann bin, nur ein alt gewordener Mensch, ein alt gewordener Gymnasiast, wie Erich Kästner mal von mir gesagt hat. Ich sage mir heute, daß es diese Zusammenbrüche nicht mehr geben darf, daß ich vernünftiger leben muß, aber ich mag nicht mehr mir, geschweige denn anderen Versprechungen leisten, da ich so heilige Versprechen so oft gebrochen habe!“

Daß der 53jährige Hans Fallada einen solchen Brief an seine Mutter schreibt, die ihm weder glauben noch verzeihen wird, ist ebenfalls zum Verzweifeln: ob er sich mühte oder nicht, von den Nazis wie von den eigenen Eltern war schließlich etwas Besseres als „milde Ungnade“ nicht zu erlangen. Versöhnen lassen sich mit Bienenfleiß und Schuldgefühl allenfalls Autoritäten, die keinerlei metaphysische, dafür aber physische Gewalt über ihn haben: „Übrigens“, heißt es in einem weiteren Brief aus der Klinik, „erregen mein Benehmen wie mein Fleiß hier solche Anerkennung, daß seine Göttlichkeit der regierende Chefarzt geruht haben, meiner Entlassung Ende März zuzustimmen ...“ Eine Entlassung für nur kurze Zeit. Als der alt gewordene Gymnasiast wenig später wieder eingeliefert wird, setzt ihn ein anderer Professor in einen Rollstuhl und führt ihn Medizinstudenten mit den Worten vor: „Das, meine Herren, was Sie hier sehen, ist der Ihnen allen bekannte Schriftsteller Hans Fallada, oder vielmehr das, was die Sucht nach dem Rauschgift aus ihm gemacht hat: ein Appendix.“

„Appendix (lat.), 1) Anhang. 2) Zusatz zu einem Buch. 3) Wurmfortsatz.“ (dtv-Lekixon)

Den Definitionen zwei und drei hätte Fallada vielleicht als junger Mensch schon zugestimmt: ein depressiver, äußerst labiler Jugendlicher mit Namen Rudolf Ditzen, der Schriftsteller werden wollte – einer, dessen Leben ein Zusatz sein sollte zu noch zu schreibenden Büchern und zugleich einer, dessen Selbstgefühl zuzeiten dem eines Wurmfortsatzes ähnlich gewesen sein muß. Ein ängstliches, ein häufig krankes Kind, dem strengen, hochbürgerlichen Vater nicht gewachsen: ein rechter Hanno Buddenbrook, den die Schule zuschanden richtet, der mehr Vertrauen in den Tod faßt als ins Leben, weil dies nicht mehr anders gedacht werden kann denn als tägliche Erneuerung einer nur allzu bekannten Qual ... Der junge Hans Fallada, ein begabter und gänzlich erfolgloser Schüler, treibt sich und seinen besten Freund in ein Duell, das den geplanten gemeinsamen Selbstmord aufs Anständigste kaschieren sollte: damals schon, zuzeiten Wedekinds, eine von den Alten entliehene Geste und in ihrer erhabenen Lächerlichkeit eine stilvolle Rache an allen bürgerlichen Formen, die doch nur lebensfeindlich wirkten... Man hat das sehr deutlich empfunden und sich über den Schrecken, den die Tat auslösen mußte, familiär und öffentlich ganz schnell hinwegzusetzen gewußt. So berichtet die B.Z. vom 18. Oktober 1911 unter der Überschrift „Die Gymnasiasten- Tragödie in Rudolstadt“ nicht ohne Kühle das Folgende: „Das blutige Schülerdrama, das sich gestern hier zwischen dem Unterprimaner Ditzen, dem Sohn des Leipziger Reichsgerichtsrates, und dem 16jährigen Obersekundaner von Necker, dem Sohn einer in Rudolstadt lebenden Offiziersfamilie, abgespielt hat, ist in seinen tieferen, psychologischen Ursachen noch nicht aufgeklärt und wird vielleicht auch nie völlig aufgeklärt werden [...] Wenn die Mitteilungen richtig sind, die mir von höheren maßgebenden Stellen gemacht worden sind, dann haben wir es in dem Rudolstädter Fall mit dem auf ungewöhnliche Weise in Szene gesetzen Doppelselbstmord zweier zwar begabter, aber idealistisch veranlagter, nervenüberreizter junger Menschen zu tun, die sich zu schade für diese schlechte Welt gedünkt haben und in Schönheit sterben wollten.“

Die maßgebenden Stellen hatten wahrscheinlich nicht unrecht, die jungen Menschen aber auch. Für die Welt, in der er erzogen wurde, war Rudolf Ditzen entschieden zu schade, und glücklich ist er kaum mehr geworden. „...man hat das Gefühl“, schrieb ihm mitfühlend Hermann Broch 26 Jahre nach dem versuchten Selbstmord aus Österreich, „als würden Sie all dieses großen Könnens nicht froh werden, als nütze Ihnen all Ihre Anständigkeit nicht, als quälten Sie sich furchtbar ab, um aus einer ungeheuren Bedrückung, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit herauszufinden.“

Brochs Sätze waren als Trost an einen Kollegen gerichtet, der ein „mit gebundenen Händen geschriebenes Werk“ (Biograph Liersch) vorgelegt hatte: „Wolf unter Wölfen“ (neben dem Erfolgstitel „Kleiner Mann — was nun?“ von 1932 Falladas bestes Buch) erschien 1937, mitten in Deutschland. In diesem Roman von 731 eng bedruckten Taschenbuchseiten, ebenso Wirtschaftskrimi wie Detektivgeschichte, Sittengemälde wie Bildungsroman, findet Hans Fallada für seine zahlreichen ProtagonistInnen, die er durch die böseste Weimarer Untergangszeit hetzt, wenig Gutes im Katalog Zukunft: „Ich kann alles mit meinen Menschlein tun“, antwortet er Broch, „und sie werden nicht einmal unglaubhaft – nur glücklich machen kann ich sie nicht...“

Daß er das nicht kann, daß seine Menschlein nicht glücklich werden, hat ihm wenig Freunde eingetragen bei den fürs Volkswohl Verantwortlichen: die Nazis mochten ihm trotz seiner parteilosen „Volkstümlichkeit“, trotz mancher Verbiegungen in ihre Richtung – ein Nachwort hier, ein geändertes Schlußkapitel dort – nicht wirklich trauen, und für die Kommunisten kam die kleinbürgerliche Haltung des Schriftstellers Hans Fallada, geb. Ditzen, schon gar nicht in Frage: „,...Was sie jetzt machen‘“, sagt Lämmchen, die energische Hauptfigur und Lichtgestalt in dem Arbeitslosen-Roman „Kleiner Mann — was nun?“, zu ihrem Mann Pinneberg, genannt der „Junge“, „,mit den Arbeitern schon lange und mit uns nun auch, da ziehen sie lauter Raubtiere hoch und da werden sie was erleben, Junge, sage ich dir!‘

,Natürlich werden sie was erleben‘, sagt Pinneberg. ,Die meisten von uns sind ja auch schon Nazis.‘

,Danke‘, sagt Lämmchen. ,Ich weiß, was wir wählen.‘

,Na – und was? Kommunisten?‘

,Natürlich.‘

,Das wollen wir uns noch mal überlegen‘, sagt Pinneberg. ,Ich möchte ja auch immer, aber dann bringe ich es doch nicht fertig. Vorläufig haben wir ja noch eine Stellung, da ist es ja noch nicht nötig.‘“

Da ist es ja noch nicht nötig ... Später, als es dann nötig wurde, hielt Pinnebergs geistiger Vater dann auch mal eine Ansprache für die Kommunisten, die hieß: „Kleiner Mann – nun! Nun verändere dein Leben, jetzt kannst du es, wir alle helfen dabei.“

Fallada selbst hat an seine Losung vom 9. Mai 1945, brauchbar auch als von der Roten Armee ernannter Kurzzeitbürgermeister im mecklenburgischen Feldberg, wohl nur sehr kurze Zeit, wenn überhaupt geglaubt. Er war, im Klassendeutsch zu sprechen, denn doch im Grunde seines Herzens ein Kleinbürger ohne das rechte Bewußtsein, den unproduktiven Regungen der Melancholie und Vereinzelung wehrlos ergeben. Daß er so war, machte sein Unglück aus; ob das zu ändern gewesen wäre, können wir hier ja getrost offen lassen. In jedem Fall hat genau diese Wahrnehmung der Hilflosigkeit, diese Kränkbarkeit im Stolz, diese Sensibilität im Unglück den Schriftsteller Fallada befähigt, das Portrait eines Arbeitslosen zu schaffen, wie es nie herzerweichender geschrieben worden ist: sein Mann Pinneberg, der ohnehin nur die bescheidensten Hoffnungen zu hegen wagte, wird von der Arbeitslosigkeit, der Überflüssigkeit, der äußeren und inneren Verelendung zerdrückt wie ein Tierchen, und wer noch Augen hat zu lesen und zu weinen, lese „Kleiner Mann – was nun?“: Was sich in Bischofferode abspielt, und warum es sich abspielt, ist besser noch nicht erklärt.

Das Werk von Hans Fallada ist zum großen und wesentlichen Teil beim Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen, einige Titel bei Ullstein, manches biographisch Wichtige (wie der Roman „Der Albdruck“ und die Emil-Jannings- Auftrags-Hommage „Der eiserne Gustav“) ist derzeit nicht lieferbar. Der Aufbau Verlag hat gerade das expressionistische Frühwerk, bestehend aus zwei (von Fallada noch zu Lebzeiten „verstoßenen“) Romanen namens „Anton und Gerda“ und „Der junge Goedeschal“ veröffentlicht.

Eine Besprechung der lieferbaren Fallada-Biographien folgt in der nächsten „Spätlese“.

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