: Auch die Mutter soll mißhandelt haben
■ Keine Klarheit im Prozeß um sexuellen Mißbrauch durch Stiefvater
Der gestrige Verhandlungstag im Fall S. brachte mehr Verwirrung als Klarheit. Der Bauarbeiter, dem vorgeworfen wird, seine Stieftochter 88mal sexuell mißbraucht zu haben, stritt weiterhin jede Täterschaft ab. Auch seine Mutter wies vehement die Vorstellung von sich, ihr Sohn könne gewalttätig oder alkoholkrank sein. Von Mißbrauch habe Nicole R. ihr nie etwas erzählt. Sie habe vielmehr sehr an ihrem Stiefvater gehangen. „Wenn mein Sohn so etwas wirklich getan hätte, wäre er nicht mehr mein Sohn“, so die 74jährige. „Aber er tut doch keiner Fliege etwas zu leide.“
Ein gerichtspsychologisches Gutachten hingegen bescheinigte Nicole R. einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit. Grundlage sei die genaue Analyse der Aussage, erläuterte Professor Max Steller die Vorgehensweise. Ihre Aussagen hätten während der Vernehmungen im letzten dreiviertel Jahr hinsichtlich Art und Dauer des Mißbrauchs fast übereingestimmt. Ein weiteres Kriterium sei der Detailreichtum, sie berichte auch Nebensächlichkeiten, etwa, daß sie gefragt habe, ob sie erst auf Toilette dürfe oder daß sie überlegt habe, zu entwischen. Nicole habe spontan und assoziativ geantwortet, was eine vorbereitete einstudierte Aussage unwahrscheinlich mache. Die von ihr geschilderten Verhaltensweisen deckten sich mit ihrem Persönlichkeitsbild, das er als schüchtern, introvertiert und auf Probleme eher ausweichend reagierend beschreibt. – „Wer eine Aussage dieser Komplexität und Qualität macht über erfundene Sachverhalte, müßte über ein hohes Maß an kreativer und planerischer Kompentenz und Intelligenz verfügen“, so Speller. Seine Untersuchungen hätten jedoch für Nicole R. allenfalls durchschnittliche Intelligenz und ein eher gering einzustufendes sprachliches Vermögen ergeben.
Demgegenüber brachte die Verhandlung im folgenden zunehmende Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Mutter des Kindes. Ihre Aussagen wichen von denen ab, die sie bei ihrer Vernehmung durch die Polizei gemacht hatte. Am Montag hatte sie ausgesagt, ihr Mann habe seine Tochter schon im Vorschulalter so geschlagen, daß das Jugendamt sich einschaltete. Die Nachforschungen des Gerichts ergaben dagegen, daß das Jugendamt Zehlendorf sich eingehend mit der Familie beschäftigt hatte, weil sie selbst das Kind gezüchtigt hätte. Auf die Nachfragen des Gerichts sagte sie nur, sie hätte ihre Tochter jedenfalls nie so geschlagen, daß diese davon Blutergüsse bekommen hätte. Schließlich sagte sie, es könne auch sein, daß sie ihre Tochter in den Tagen direkt nach der Verhaftung ihres Mannes geschlagen habe, widerrief dies jedoch fünf Minuten später. Nicole R. hatte an dem Tag, an dem sie die letzte Mißhandlung anzeigte, keine sichtbaren Verletzungen, wie die untersuchende Polizeibeamte bestätigte. Zwei Tage später stellte ihr Frauenarzt jedoch Blutergüsse im Gesicht und auf den Oberschenkeln fest. Die Verhandlung wird fortgesetzt. cor
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