Aus Kult wurde Kultur

■ Lob des Dachschadens: Zum 400. Psychopathentreffen in der „Lindenstraße“

Berlin (taz) – Die Zeiten, in denen man nur hinter vorgehaltener Hand bekennen konnte: „Ich schaue mir die ,Lindenstraße‘ gern und regelmäßig an“, sind glücklicherweise vorbei. Nach fast acht Jahren mit 400 Folgen hat Hans Werner Geißendörfer es geschafft: Die „Lindenstraße“ hat sich nicht nur zu einer Kultsendung emanzipiert, sondern ist zur Kultur schlechthin geworden. Die Einschaltquote liegt mittlerweile, was man 1985 noch nicht zu hoffen wagte, bei 23 Prozent, das macht etwa 8 Millionen Zuschauer.

Über dreißig Fan-Clubs mit den schillerndsten Namen wurden bisher gegründet. Darunter der „Else-Kling-Fan-Club“, nicht zu verwechseln mit „Elses Enkeln“, „Die Tauben“, „Friedhelm Ziegler and the Joy of Death“ oder schlicht und einfach „Lindenstraße-Fangemeinschaft ,Zwanzig vor Sieben‘“. Mehr als 90 Untersuchungen wurden bis dato zu Deutschlands beliebtestem Verkehrsweg durchgeführt: Schulaufsätze, Diplom- und Magisterarbeiten, Dissertationen, Habilitationsschriften.

Wo Kultur ist, gibt es leider auch Opportunisten und Heuchler. Schon Max Goldt beklagte sich über Schwätzer, die sich mit falschem „Lindenstraßen“-Wissen bei ihm einschleimen wollen und etwa Benno mit Benny verwechseln. Dennoch gehört zum echten „Lindenstraßen“-Fantum ein bißchen mehr als ein paar Who's-who- Kenntnisse. Schließlich verfolgt man das Geschehen nicht erst seit gestern. Ein ausgeprägter Voyeurismus und ein wohliger Schauer angesichts des Leides anderer sind unabdingbare Voraussetzungen. Kein Brocken ist zäh genug, als das man ihn nicht kauen und schlucken könnte. Die „Lindenstraße“ zeigt, wie schlimm das Leben sein kann. Es wird nicht etwa die Realität beschrieben, wie manche Kritiker uns Glauben machen wollen, sondern geballte Katastrophen. Vollkommen zu Recht müssen sich „Lindenstraßen-Fans daher Masochismus nachsagen lassen. Denn die „Lindenstraße“ ist ein Gruselkabinett, bei der die heile Welt außen vor bleibt.

Genau das ist es vielleicht, was uns so gut unterhält, daß wir nach nur wenigen Folgen nicht mehr ohne auskommen können. (Selbst Kollege Ralf Sotscheck hatte sich nach einem Besuch am Drehort Bocklemünd und dem Genuß von nur zwei Folgen bereits infiziert. Er hat Glück, denn über Satellit empfängt er die Wiederholung auf Nord 3 auch in Irland!).

Mit sämtlichen Illusionen wird gründlich aufgeräumt: Kinder sind niemals niedlich, sondern von Grund auf nervig. Man denke nur an den Trauerkloß Walze, die den Holocaust mit einem kahlrasierten Schädel sühnte. Fast alle „Lindenstraßen“-Kinder haben einen Dachschaden. Aber manche sind nicht nur verhaltensgestört, sondern sogar gemeingefährlich. Mitunter paart sich hier auch beides, wie der kurzzeitig zum Rechtsradikalen mutierte Klausi Beimer oder das geprügelte Kind Lisa belegen. Die kleine Lisa wollte vor drei Wochen erst ihre Gönnerin Amelie umbringen.

Glückliche Familien gibt es schon lange nicht mehr in der „Lindenstraße“. Selbst die Hoffnung, daß Hans mit seiner neuen Frau Anna und ihrer Brut ein harmonisches Familienleben führen wird, ist völlig unbegründet; dafür wird Herr Dabelsteiner, der Anna auf erpresserische Weise nachstellt, schon sorgen.

Eigentlich sollte Gabi Zenker doch froh sein, daß sie ihre Leute endlich los ist. Selbst Hubert und Röschen, die ihre Fürsorge bis zur Schmerzgrenze treibt, werden sich vielleicht zwischenzeitlich verabschieden, indem sie nach Rostock ziehen. Jetzt hat sie wenigstens Zeit fürs Mäxchen, das einzige Kind ohne spürbare Anzeichen von Neurosen. Doch drohte Iffi vor ihrer Abreise nach Spanien: „Ich komme wieder!“

Aber eines bleibt tröstlich: schlimmer als bei den Schildknechts, wird es in keiner Familie mehr zugehen. Selbstmord, Leukämie, Trunksucht und Prostitution gaben sich die Türklinke in die Hand. „Lediglich vor dem Tabuthema Inzest schreckt die ARD noch zurück“, bedauert eine der AutorInnen der „Lindenstraße“, Marie-Elisabeth Straub. Sie hätte Töchterchen Tanja allzu gerne auf Vater Schildknechts Schoß gesehen.

Mittlerweile gehören die Schildknechts der Vergangenheit an. Außer Tanja sind alle gestorben, und die ist gerade mit Dr. Dreßler auf dem New-Age-Trip. Clever eingefädelt, denn so was wie „religiösen Wahnsinn“ hat es noch nicht gegeben. Aber bis zur 468. Folge, soweit wurde nämlich schon vorgedreht, kann noch allerhand passieren. Wie wird es wohl weitergehen mit Bertas Tablettensucht, der kleinen Lisa und dem Segen im Hause Beimer? Kirsten Niemann