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Stöpsel für SanktPetersburg

■ Eine Delegation der Hamburger Um-weltbehörde besuchte im Juli St. Petersburg. Auf dem Programm standen neben hochoffiziellen Terminen auch Gespräche mit Umweltinitiativen und -gruppen. Denn die ökologischen Probleme in Hamburgs Partnerstadt sind so gravierend, das die hiesigen im Vergleich dazu beinahe unbedeutend wirken. Mehr als eine Öko-Reportage schrieb für die taz Jens Reimer Prüß*

„Und Aurora sprach fünfzöllig ihr Machtwort.“ Lautete nicht so oder so ähnlich der Titel des revolutionären Ölgemäldes, das auch bundesdeutsche Geschichtsbücher gern abdrucken?

Vielleicht waren es sechs Zoll oder viereinhalb; bestimmt weiß es der Kommandant des legendären, jetzt friedlich vertäut daliegenden Panzerkreuzers. Touristen aller Länder tätscheln die Bordkanone, deren Signalschuß 1917 den Sturm auf den Winterpalast des Zaren auslöste - als, sozusagen, der goldene Schuß für die Romanow-Dynastie.

Mit geschultem Blick hat der Kommandant uns, die ökologische Delegation aus Gamburga, als V.I.P.s ausgemacht. Wir dürfen die Offiziersmesse besichtigen, mit Lenin-Relief, Schachtischen und dem Bordklavier, das zehn Jahre vor der Revolution in Berlin gefertigt worden ist. Da hatte Aurora schon den russisch-japanischen Krieg hinter sich; weitere sollten folgen. Viele Gründe mag es geben, ein Schiff in Öl zu verewigen... aber so? Als wir wieder an Deck kommen, schillert er in der Nachmittagssonne: der Ölfilm, in dem Aurora schwimmt, der von irgendwo flußaufwärts kommt und auf dem Weg zur Ostsee ein dickwandiges Stück Vergangenheit umspült.

Schilderungen der Schönheit St. Petersburgs erlauben manchen Superlativ. An kontrastierenden Brechungen fehlt es allerdings nicht: Palästen und Hütten sind Trabantenstädte von solchen Ausmaßen benachbart, daß die bekannten drei bis vier Hochhaussiedlungen in Hamburg dagegen dörfliche Idyllen sind. Der ÖPNV bewegt erfolgreich große Menschenmassen, allerdings dürfte der Zustand der Straßenbahn-Gleisanlagen beim hiesigen TÜV Ohnmachtsanfälle auslösen. Kaum ermeßlich sind die Umweltprobleme.

Unser Ansatz: daß diese Probleme (wenn überhaupt) nur gemeinsam zu packen sind, d.h., daß einheimisches und externes Know-how zusammengeführt werden müssen. „Auf den Synergie-Effekt“, so der Senator in seiner Rede beim Empfang durch Oberbürgermeister Prof.Sobchak, „kommt es an. Wir müssen setzen auf: Phantasie statt Bürokratie, Praxisorientierung statt allumfassender theoretischer Entwürfe, das Ausspielen regionaler Stärken statt Zentralismus.“

All das kann man laut sagen und zum Teil vielleicht auch wieder vergessen. Breite Boulevards, prächtige Fassaden, schimmernde Wasserflächen, großzügige Parks (deren Vegetation eher strammsteht, wo Hamburg sie üppig wuchern läßt); Straßencafes, Verkaufsstände, pralles Leben; Menschen, die mitnichten in Sack und Asche gekleidet sind, Kaufhäuser mit keineswegs gähnenden Regalen... Alsbald falle ich meiner Umgebung auf die Nerven, indem ich behaupte, in zehn Jahren sei das hier „wie Paris“. Love at first sight macht euphorisch und vielleicht naiv, nicht blind: Tristesse pur vermitteln die Außenbezirke, und die Ahnung von sozialen Gewittern, die sich bei nachlassendem politischen, aber steigendem wirtschaftlichem Druck hier zusammenbrauen können. Privatisierung, Inflation, steigende Mieten, Verdrängung an die Peripherien - aus sicherer Entfernung klang und klingt es vertraut, was den RussInnen die Reformpolitik mitbeschert. Worin der Unterschied besteht? Vielleicht einfach darin, daß die Menschen in Leningrad (die Region heißt weiter so) schon ganz anderen Bedrohungen gegenübergestanden haben. Doch Weltuntergangsstimmung, von westlichen Intelektuellen derzeit gern um den Hals getragen, kommt ausgerechnet hier in mir nicht auf. Eher Bescheidenheit und die nagende Frage, ob nicht manches Problem, um das wir uns zuhause politisch prügeln, das Relevanzniveau eines Fliegenschisses hat.

Womit wir bei der Ökologie wären und beim Wasser der Newa, des Flusses, ohne den in St. Petersburg nichts und in den alles geht. In der Wasserver- und Entsorgung kulminieren ungefähr alle Strukturprobleme, die der Realsozialismus gerade der Umwelt vermacht hat. Ein 130 Jahre altes Wasserwerk versorgt rund sechs Millionen Menschen mit Trinkwasser von einer Qualität, die nach den in Hamburg gültigen Grenz- und Richtwerten nicht mal eine Einleitung dieses Wassers in die Elbe erlauben würde, ohne daß ein mittlerer Skandal die Folge wäre. Wir haben ein paar Tage vor Aurora Vodokanal besucht; das ist kein privater TV-Sender, sondern die Wasserbehörde, deren Ingenieure ihr Bestes tun bei dem Versuch, eine Riesenmetropole im Rahmen des Möglichen mit gesundheitsverträglichem Trinkwasser zu versorgen.

Der Erfolg ist, den Umständen entsprechend, Ansichtssache; man spricht von Diphteriefällen und anderen Krankheiten, die immer mal auftreten, kann über Dunkelziffern nur mutmaßen und dankt Gott, der St. Petersburg vor massenhaften Vergiftungsfällen bislang bewahrt habe (so wörtlich ein leitender Manager der Stadtentwässerung in einem Zeitschrifteninterview). Anderswo in Rußland sei dergleichen vorgekommen, zum Beispiel als Folge von Unfällen bei der Lagerung großer Mengen flüssigen und gasförmigen Chlors.

Ohne diesen übelbeleumundeten Stoff geht es aber nicht, denn er macht das gefilterte Newawasser überhaupt erst nutzbar. Grundwasserleiter sind kaum erschließbar oder schon kontaminiert; so ist es der Fluß, den man anzapfen muß, und das geschieht möglichst tief unten, wo weniger Schadstoffe zu vermuten sind als oben, wo die Einleitungen münden und der Ölfilm Aurora umspült.

Der Einleitungen sind es viele, dem Galvanikbetrieb folgt flußabwärts die Papierfabrik, dieser die Ölmühle, und dann geht es von vorn los. Kein Anlieger unseres Elbstrandes würde seinen Fuß in so einen Fluß halten...

Den Vodokanalern bleibt nichts anderes übrig; Schwebstoffe, auch Schwermetalle lassen sich einigermaßen herausfiltern, aber gegen die Keime hilft nur Chlor - man gibt Antibiotika, sozusagen, um das kranke Wasser zu kurieren. Nebenwirkungen: ein charakteristischer Geruch und eine trübe Farbe, beides aushaltbar, wie ein Selbsttest (Vollbad) im Hotel beweist. Weniger leicht zu nehmen: die chlorierten Kohlenwasserstoffe, CKW. Nur ein paar Zahlen stellvertretend für viele: 1 Liter abgegebenes Petersburger Trinkwasser enthält nach offiziellen Angaben circa 20 Mikrogramm CKW, womit der dortige Grenzwert noch mühelos unterschritten wird. Die deutsche Trinkwasser-Verordnung legt 10 Mikrogramm als Grenzwert für die hier einschlägigen haloformen CKW fest. Die EG postuliert sogar maximal 1 (in Worten: ein) Mikrogramm für Chlorverbindungen, die nicht Pestizide sind; allerdings ist das ein unverbindlicher Richtwert, der auch in der Bundesrepublik bisher nicht in geltendes Recht eingeflossen ist, aber in Hamburg angepeilt wird. Demgegenüber schrammt die amtliche Petersburger Ist-Zahl gerade noch unter dem EG-Wert für Oberflächenwässer - Alster, Elbe, Newa - hindurch, aus denen niemand freiwillig trinken würde.

Entscheidend ist, in welcher Qualität Trinkwasser - in Hamburg nur noch aus Grundwasser gewonnen - tatsächlich aus dem Hahn läuft, und längst sind die öffentlichen Toleranzschwellen in Deutschland durchweg niedriger als die jeweiligen Grenzwerte. Mit Recht, denn es ist nicht zu spaßen mit Stoffen, von denen einige letztendlich über die Muttermilch den Säuglingen verabreicht werden. Andererseits, wenn die Alternative in einer Ruhr-Epidemie besteht, wie zu Kronstadt geschehen? Oder in Cholera?

Wissenschaftlern gilt die Wasserpurifikation per Chlorierung inzwischen als vorsintflutliche Methode, das wissen auch in St. Petersburg alle Experten. Was also tun? Auf bessere, anderswo längst etablierte

Technologien umsteigen? Gern, aber mit welchem Geld bitte? Nennenswerte Einnahmen hat Vodokanal nicht, obwohl (oder gerade weil) der Verbrauch immens ist: pro Kopf mindestens doppelt so hoch wie in Hamburg. Das hat seine Logik, denn private Verbraucher kostet der Kubikmeter nur ein paar Kopeken - also auch nach dem bescheidenen Durchschnittseinkommen von 20 bis 30.000 Rubel

bemessen so gut wie nichts. Zum Vergleich: 800 Rubel kostet ein Baby-Strampler, tausend eine Beatles-LP, 1.500 ein Kilo Fleisch, 2.300 eine Dose Rasierschaum.

Was nichts kostet, hat keinen Wert und kann auch großzügig vergeudet werden - eine von vielen bitteren Erkenntnissen, die zumindest nachträglich in die bittere Definition münden: Sozialismus ist, wenn der Staat alles bezahlt, von dem Geld, das er einspart bei den Investitionen, die er unterläßt. Jeweils 30 Prozent, schätzt Vodokanal, des abgegebenen Wassers gehen verloren: durch undichte Stellen im Leitungsnetz einerseits und Verschwendung andererseits. Das Nichtvorhandensein von Stöpseln in Ausgüssen ist legendär und charakteristisch.

Für Firmen gilt der Nulltarif übrigens nicht. Doch je höher ihre Wasserrechnung ist, desto niedriger sinken Zahlungsfähigkeit und -moral, denn Ebbe ist in fast allen Kassen. Keine Einnahmen für die Wasserwerker heißt: keine Investitionen, kaum Chancen, die Rohre zu flicken, geschweige denn ein neues Purifikationssystem aufzubauen oder nach anderen Wasserquellen zu forschen (Der Ladoga-See, 100 Kilometer flußaufwärts, kommt sowieso nicht mehr in Betracht, da die Wasserqualität dort nicht besser ist).

Wo also ist dieser vicious circle aufzubrechen? Hamburgs Fernziel: Wasserzähler in sämtlichen Wohnungen, weiteres Senken des Verbrauchs über verstärkten Anreiz zum Sparen sowie rationelle Nutzung in verbrauchsarmen Geräten und Installationen ... Science fiction ist so etwas hier in St. Petersburg, genau wie die Einführung marktgerechter Preise für industrielle Wasser- oder Energieverbraucher (bekanntlich kennt sogar unser Wirtschaftssystem politische Tarife).

Oder wie wäre es mit kostendeckenden Gebühren für die Abwasserbehandlung? Da bedürfte es erstmal einer ungefähren Vorstellung vom Umfang der nötigen Investitionen. Derzeit ist es nämlich so, um nochmal eine Horrorzahl zu nennen, daß 400.000 Kubikmeter völlig ungereinigtes kommunales Abwasser täglich (!) ins Ökosystem gelangen. Das sind diejenigen 28 Prozent des Gesamtaufkommens, für die die Klärwerkskapazität nicht ausreicht. Was mit den Klärschlämmen aus den anderen 72 Prozent geschieht, ist noch wieder ein Thema für sich. Und da fallen mir dann Hamburg und seine Umlandkreise ein, die heftigen Bürgerproteste und die Riesenaktion, mit der wir derzeit versuchen, aus der Belieferung der Deponie Schönberg mit getrocknetem Klärschlamm auszusteigen. Derweil können die St. Petersburger froh sein, nicht in Kronstadt zu leben, an der Mündung der Newa, wo die Schmutzfracht erst richtig aufschwimmt, demnächst noch aufgestaut durch das Milliardenprojekt eines Flutschutzdammes, den Umwelt

schützer heftig bekämpfen, weil er den Wasseraustausch zwischen dem Finnischen Meerbusen und der Newa behindern wird.

Man wird bescheiden, um nicht zu sagen demütig angesichts der ökologischen Probleme hier im Vergleich zu denen zuhause. Was nicht heißen darf: herunter mit unseren heimischen Standards, soweit sie den vorsorgenden Umweltschutz betreffen, also Gewässer- und Bodenschutz, Luftreinhaltung, Naturschutz, Sicherung städtischen Grüns. Wohl aber sollten wir über gewisse Prioritätensetzungen gelegentlich nachdenken, was den Versuch betrifft, 100 Jahre Industriegeschichte nachträglich ungeschehen zu machen. 22 oder 30 Millionen für die ausreichende oder die Luxussanierung eines einzigen Grundstückes - ein Unterschied von acht Millionen; dafür könnte man wahrscheinlich ganz St. Petersburg, unsere Partnerstadt, mit Ausguß-Stöpseln ausstatten. Genau das fällt einem meiner Gesprächspartner zuerst ein, als ich nach direkt wirksamen Hilfsmöglichkeiten Hamburgs frage.

Ein Projekt ausgucken zu helfen, gehört zu den Aufgaben des ECAT, des EG-finanzierten Environmental Centre for Administration and Technology, der neuen west/östlichen Errungenschaft in St. Petersburg. Victor Seleznev ist russischer Mitarbeiter des ECATbisher ehrenamtlich, weil die zuständige städtische Behörde mit den Einstellungsverfahren nicht in die Pötte gekommen ist. Er legt mir ein sechsseitiges Exposé eines russischen Forschers ans Herz; es geht um eine Erfindung, deren Realisierung nach seinem festen Eindruck die Trinkwasseraufbereitung weltweit revolutionieren würde. Ein Fall für das Umweltbundesamt und die HWW? Mögen sie allen Grund finden, Victors Begeisterung zu teilen, denn dies wäre eine Revolution, die der Globus gut brauchen könnte

Doch noch sind wir in St. Peters burg, wo - gespenstisch genug - sich an der Vegetation die Spuren der Deutschen ablesen lassen: Bäume, die älter wären als 50 Jahre, gibt es im Stadtgebiet nicht. 900 Tage Belagerung, da war irgendwann auch das Feuerholz verbraucht, und das war noch nicht das Schlimmste. Hamburg, sagt Dr. Vahrenholt beim Empfang des Oberbürgermeisters, werde es St. Petersburg niemals vergessen, daß die Stadt schon vor über dreißig Jahren die Hand zur Versöhnung ausgestreckt habe. Er spricht von der Chance, etwas zurückzugeben, Schuld abzutragen... Ich versuche, während der Rede in den Gesichtern der Anwesenden zu lesen. In keinem der Statements von russischer Seite ist das Thema angesprochen worden.

Zu St. Petersburg gehört der Besuch des Ensembles Winterpalast/Eremitage. Gold und Edelsteine, Gold und Marmor, Gold und Gold und Gold... Da spätestens ist sie wieder, die Ahnung, was verhungernde oder verdurstende Massen zu einer Revolution treiben kann und muß. Und begeisterte Revolutionsmaler zu einem Kriegsschiff in Öl: Aurora, die Morgenröte...

Der Weisheit letzten Schuß hat sie nicht abgefeuert, und so habe ich das Bild in der Eremitage auch nicht hängen sehen. Den Besuch lohnen Picasso und Rembrandt.

*Der Autor ist Referent für Um-weltberichterstattung beim Hamburger Umweltsenator Vahrenholt.

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