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Alles zum Verkauf

Moskaus neues Fernseheinerlei, subventionierte Zeitungen und seltsam sprachlose Dissidenten  ■ Von Boris Kargalitsky

Die sowjetische Zensur starb ein Jahr vor der Sowjetunion, und selbst vor ihrer offiziellen Abschaffung fühlten sich die Journalisten schon relativ frei. Die Gesellschaft gestand ihnen Autorität und Einfluß zu, und den Leuten tat das Geld, das sie für Zeitungen und Zeitschriften ausgaben, nicht leid: sie lasen eifrig die neuesten Nachrichten und warteten geduldig auf den nächsten Skandal. Zahlreiche „verbotene“ Bücher waren auf dem Markt, und ehemals emigrierte Schriftsteller gaben Interviews im staatlichen Fernsehen.

All das ist inzwischen Vergangenheit. In Rußland liest heute kaum noch einer Zeitung, und noch weniger Menschen glauben, was drinsteht. Unsere Bildschirme sind voll lästiger Propaganda und monoton wiederholter Werbespots für Dinge, die sich 90 Prozent der Bevölkerung ohnehin nicht leisten können. Ab und zu darf ein Mitglied der Opposition auftreten – aber entweder ist es dann einer der lammfrommsten Moderaten oder ein unangenehmer Extremist. Aus diesem Grund werden selbst mexikanische Seifenopern für Millionen Zuschauer zur willkommenen Abwechslung. Die einzige Informationsalternative ist die Sendung „600 Sekunden“ aus Petersburg mit dem äußerst talentierten Alexander Newsorow, der beispielsweise Saddam Hussein preist und Rußland law and order nach dem Muster eines autoritär-orthodoxen Regimes irakischen Vorbilds verspricht. Die Behörden versuchten zwar, Newsorows Sendung den Hahn abzudrehen, doch Massenproteste, nicht nur von Fans der Sendung, verhinderten das. Die Öffentlichkeit ist zunehmend der Ansicht, jede Alternative sei besser als gar keine.

Unübersichtlichkeit gegen Kontrolle

Nach ihrem Sieg über den „gefürchteten kommunistischen Totalitarismus“ 1991 führten die neuen Behörden gründliche Säuberungen in Radio und Fernsehen durch. Sie entließen jeden, der im Verdacht stand, mit den „Roten“ sympathisiert zu haben. Selbst Techniker wurden entlassen, woraufhin es des öfteren zu Pannen auf dem Bildschirm kam: falsche Bilder, fehlender Ton oder völliger Blackout. Aber wenigstens hatte man keine „roten“ Techniker mehr.

Übriggebliebene oder neu dazugekommene Journalisten entdeckten bald, daß selbst ein aufrichtiger Haß auf alles Linke sie nicht vor Angriffen schützen konnte. Sie mußten ihren Zuschauern nicht nur ständig mit dem „roten“ Mann drohen und die Regierung loben, sondern auch dafür sorgen, daß es der Regierung auffiel. Wegen einer nicht gelungenen Berichterstattung über Ereignisse im Kaukasus verlor der Chef der Fernsehgesellschaft Ostankino innerhalb einer Stunde seinen Job. Als Chefredakteur von Moskau News hatte Jegor Jakowljew mehr als jeder andere Russe dafür getan, die Idee eines neuen russischen Staates zu verbreiten und den Kollaps der Sowjetunion zu propagieren. Nachdem er seine Schuldigkeit getan hatte, konnte er gehen. Der gestern noch mächtige Beherrscher der öffentlichen Meinung war über Nacht zu einem zittrigen alten Mann geworden, der seine Kollegen um Hilfe bat. Sie stellten sich auch tatsächlich auf seine Seite und veröffentlichten eine gemeinsame Stellungnahme. Weder der Präsident noch die Regierung nahmen Notiz davon, und schon einen Tag später spazierten dieselben Kollegen wieder durch die Gegend und machten Werbung für die Reformpolitik derselben Regierung. Jakowljew folgten noch weitere Journalisten der ersten Stunde, weil sie es gewagt hatten, eine von der Regierung abweichende Meinung zu haben.

Doch selbst heute stimmen noch nicht alle Sendungen mit der Politik der Regierung überein. Aufgrund des Chaos im Land, der Ineffektivität der Bürokratie und unübersichtlichen Strukturen im Fernsehen ist es einfach nicht möglich, alles, was auf dem Bildschirm erscheint, unter Kontrolle zu halten. Außerdem kann man heute in Rußland alles kaufen, selbst Sendezeit im staatlichen Fernsehen – ein Umstand, der von den neuen Unternehmern weidlich ausgenutzt wird, die von der alten Mafia kaum zu unterscheiden sind. Auch die Gewerkschaften und die Linken müssen sich dieser Medien und Methoden bedienen, wenn sie die Leute an ihre Existenz erinnern wollen. Eine einstündige Sendung im Vierten Programm über einen führenden Politiker der „Partei der Arbeit“, Andrej Isajew, kostete die Moskauer Gewerkschaft relativ wenig: nur 200.000 Rubel (250 US-Dollar). Fernsehchefs nehmen nicht etwa Bestechungsgelder, sie bitten um Beihilfe von „Sponsoren“. In Regierungskreisen wird häufig und sehr konkret über das Privatfernsehen der Zukunft nachgedacht, durch das die Meinungsfreiheit garantiert werden soll. Keiner aber verliert ein Wort über die Notwendigkeit, Sendezeit für Leute bereitzustellen, die sich gegen die herrschenden Orthodoxien aussprechen. Denn private Sender werden unweigerlich die gleichen Werte verbreiten wie das staatliche Fernsehen – was auch niemand bestreiten will, werden doch die gleichen gesellschaftlichen Kräfte und Personen dahinterstehen.

Ein neues Wahrheitsministerium

Die Privatisierung des Moskauer Fernsehsenders hat die meisten Aktien in die Hände lokaler Bürokraten gespielt. Sie sind jetzt nicht nur mächtige Funktionäre, sondern auch noch Privateigentümer, und auf diese Weise hat die Privatisierung des Senders die gleichen Folgen wie noch jede andere Privatisierung in Rußland: die gleiche Mischung von Leuten hat auch 1992 den neuen Kanal Sechs des russischen Fernsehens wieder übernommen.

Viele „unabhängige“ Zeitungen sind in Wirklichkeit ebenso abhängig von der Regierung wie das staatliche Fernsehen. Ohne die direkten und indirekten Subventionen des Staates könnten sie schlichtweg nicht überleben. Die Presse- und Medienpolitik der Regierung wird von einem einflußreichen staatlichen Komitee koordiniert. Journalisten haben es bereits das „Wahrheitsministerium“ getauft, auch, weil sich keiner den offiziellen Titel merken kann. 1992 riefen die Stadtbehörden Moskaus ihr eigenes „Propagandaministerium“ ins Leben und setzten Pawel Gusew, den früheren Chefredakteur des Massenblattes Junger Kommunist Moskau, als seinen Chef ein. Diese Zeitung ist mit der englischen Sun (oder der deutschen Bild, Anm. d. Übers.) vergleichbar – wobei die Sun noch als die seriösere Zeitung erscheinen würde.

Das Ministerium hat all jenen Zeitungen finanziell kräftig unter die Arme gegriffen, die den american way of life samt freiem Unternehmertum, starkem Management und Coca-Cola predigen, die „Weltanschauung der demokratischen Wahlmöglichkeiten“ also. Nach einigen Skandalen mußte sich das Propagandaministerium personell erneuern, aber seine Pressepolitik blieb unverändert.

Subventionen kommen nicht nur aus den Taschen der staatlichen Behörden. Unternehmergruppen, die der Regierung nahestehen, geben Journalisten und Ministern großzügige Finanzspritzen. Durch dieses System „gegenseitiger Befruchtung“ wird für jeden gesorgt.

Auch eine linke Presse existiert noch. Achtzig sozialistisch ausgerichtete Publikationen halten sich mit Hilfe der Gewerkschaften über Wasser, und die Prawda wird von einem griechischen Millionär finanziert, der früher sowjetische Parteigelder im Westen „gewaschen“ haben soll. Die kommunistische Presse ist jedoch vom Massenpublikum abgeschnitten, und nur Leute, die ohnehin Kommunisten unterstützen würden, lesen sie noch. Mit der Vertiefung der ökonomischen Krise wächst die Popularität der alternativen Presse. Die Zeitung Solidarität, von Andrej Isajew mit Hilfe der Moskauer Föderation der Gewerkschaften publiziert, konnte ihre Auflage von 5.000 (1991) auf 40.000 (Ende 1992) steigern, und der Trend zeigt weiter nach oben. Für Rußland ist das jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Euphorie der Jahre 1990 und 1991, in der Millionen Menschen in Rußland und Osteuropa auf ein freies und glückliches Leben hofften, ist einer apathischen Desillusionierung gewichen, hinter der sich ein politischer Sturm zusammenbraut.

Diesmal können aber weder Journalisten noch Intellektuelle glaubwürdig von sich behaupten, sie seien die Verteidiger des Volkes. Willentlich oder unwillentlich haben sie der Öffentlichkeit die Wahrheit darüber, was mit dem freien Markt auf sie zukommt, vorenthalten. Und sie haben die antikommunistischen Kampagnen und Säuberungen, die im Staatsapparat der Russischen Föderation schon ein halbes Jahr vor dem berühmten August-Putsch begannen, mit Begeisterung unterstützt.

Und was tun die Dissidenten?

Dennoch haben zwischen 1989 und 1991 in Rußland wie überall in Osteuropa nicht so sehr die Kommunisten, sondern eher die Dissidenten verloren. Die kommunistischen Parteien ziehen wieder Tausende, auch junger Leute an, die sich gegen den Ausverkauf ihrer Länder und gegen Korruption zur Wehr setzen, während die Parolen der Menschenrechtsaktivisten der sechziger und siebziger Jahre heute nur noch wie völlig abstrakte Versprechen klingen.

Die Niederlage der Dissidenten war gründlich und, was wichtiger war, unwiderruflich. Zu einem nicht geringen Teil liegt die Verantwortung hierfür bei den Dissidenten selbst. Plattitüden wie „Revolutionen fressen ihre Kinder“ erklären eben nichts. Die Dissidenten sind nicht vom Moloch der Revolution gefressen worden, sie kamen nicht im Feuer eines Bürgerkrieges um, gerieten an keinen Galgen oder wurden sonstwie Opfer der Repression. Sie fielen ganz einfach aus dem politischen Leben heraus, nachdem sie nicht nur ihren Einfluß aufgebraucht hatten, sondern auch ihre moralische Autorität, da sie weder in der Lage noch willens zu sein schienen, gegen die neuen Ungerechtigkeiten aufzustehen. Menschen, die sich auf ihre Fähigkeit, gegenüber dem alten Regime nein zu sagen, einiges zugute hielten und sich „Dissidenten“ und „Nonkonformisten“ nannten, zeigten sich angesichts der neuen Verhältnisse erstaunlich passiv und auf eklatante Weise unfähig, sich gegen herrschende Orthodoxien, Parolen oder Stimmungen zu stellen.

So paradox es klingen mag: als sie sahen, wie vieles wieder schiefging, hatten sie größte Angst davor, durch Widerstand gegen das neue Regime wieder zu Dissidenten zu werden, sich erneut zu isolieren und in der Minderheit zu sein. Diese Angst lähmte sie. Unter den Kommunisten waren sie nur eine bedeutungslose Minderheit, während eine passive Mehrheit (in Rußland zumindest) sich ganz und gar auf die Werte des Regimes eingelassen oder sich (in Osteuropa) doch wenigstens mit ihnen versöhnt hatte. Aber damals blieb die Mehrheit stumm oder betete höchstens Phrasen nach. 1990/91 jedoch spülte die Propaganda Menschenmassen auf die Straßen, die begeistert antikommunistische Parolen riefen. Schöngeistige Intellektuelle, die bereits von diesen aggressiven Massen beunruhigt waren, ließen sich noch mehr durch die aggressive Eindeutigkeit der „freien“ Presse schockieren. Diese wiederholte unter fürsorglicher Beratung US-amerikanischer Experten jeden Unsinn über nationale Erneuerung, die Notwendigkeit allgemeiner Privatisierung, die Vorteile einer religiösen Erziehung und die Segnungen der Abschaffung einer freien medizinischen Versorgung. Nachdem sie sich gegenüber dem Druck einer feindseligen Parteipropaganda hatte behaupten können, kapitulierte die freie Presse ganz unerwartet und ergab sich der neuen antikommunistischen Propaganda, offenbar ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß für die „neuen“ Ideen von den gleichen Publikationen und Leuten geworben wurde, die gestern noch vom „Aufbau des Kommunismus“ geredet hatten.

Wenige Dissidenten, die sich gegen nationalistische Tendenzen, totale Privatisierung und das allgemeine Klima der Jagd auf Sündenböcke aussprachen, waren schon bereit, sich wieder in die Opposition zu begeben, die als politische Kraft anerkannt wurde. Paradoxerweise empfanden sie den Gedanken, als Verteidiger der Freiheit im Osten neue, lange Kämpfe in politischer Isolation vor sich zu haben, als so abschreckend, daß sich kaum einer von ihnen zu diesem Schritt entschließen konnte. Außerdem hatten sie Angst, plötzlich bolschewistischen Sympathisantentums beschuldigt zu werden, so daß sie jeglichen Kontakt mit dem früher kommunistischen Lager vermieden, auch nach 1989, als klar war, daß sich die Elite der Partei für den Kapitalismus entschieden hatte und nur die ernsthaftesten und anständigsten (wenn auch nicht immer intelligentesten) Leute am linken Ufer zurückgeblieben waren.

Ein primitiver Opportunismus und Konformismus triumphierte in den Reihen der intellektuellen Elite. Nachdem man erkannt hatte, daß von Freiheit und Gerechtigkeit auch unter dem neuen Regime nicht die Rede sein konnte, zog man sich still zurück oder unterstützte sogar die neue Politik aus Angst davor, als „Roter“ zu gelten, sich wieder in einen Fortsetzung auf Seite 16

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langen Kampf stürzen zu müssen oder weil man ganz einfach auf die krudeste Weise gekauft worden war. Kritik an der Reformpolitik wurde meist schwach, geradezu krankhaft vorsichtig und in den meisten Fällen unverständlich vorgetragen. Abweichende Meinungen, die es bis in die Öffentlichkeit geschafft haben, werden derart konfus dargestellt, daß man sich fragt, wie und ob sich da jemand wirklich von der Mehrheitsmeinung unterscheidet.

Dennoch wäre es falsch, von einer Niederlage der Freiheit in Rußland zu sprechen. Wahrheit triumphiert nie über die Macht, ohne selbst zu einer Macht zu werden – und es braucht lange Jahre solider Organisationsarbeit, bis Millionen von Menschen in der Lage sind, ihre Erfahrungen ernst zu nehmen, politisch differenziert zu denken und für ihre Rechte und Interessen einzutreten. Osteuropa und Rußland sind davon noch weit entfernt.

Unter solchen Bedingungen hat man, wenn man es mit den Prinzipien der Demokratie ernst meint, nur eine Möglichkeit, sich treu zu bleiben: sich noch einmal neu für die Rolle des Dissidenten zu entscheiden. Doch genau diese Haut hatten viele Mitglieder der alten Opposition um jeden Preis abstreifen wollen. Die Natur jedoch läßt kein Vakuum lange zu. Die ideologische Kapitulation der Dissidenten bedeutet entweder, daß in einigen Ländern Neostalinisten begonnen haben, Opposition zu spielen und aus Tätern Opfer gemacht haben, oder daß eine neue Generation politischer Aktivisten mit dem Kampf wieder von vorne anfängt.

Diese neue Generation glaubt nicht mehr an alte Formeln und hat auch keine Angst vor unpopulär gewordenen Begriffen wie „Sozialismus“ oder „Internationalismus“. Auch wenn die Dissidenten hartnäckig darauf beharren, die Affäre 1989 sei bereits zu einem glücklichen und siegreichen Ende gebracht worden, wird eine neue Generation die Mühen des Abweichens und Kritisierens noch einmal auf sich nehmen müssen.

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