Die Flagge und die Wut

Nigeria nach zehn Jahren Militärdiktatur ist ein steuerloses Schiff ohne Ruder. Wo nichts mehr funktioniert, kommt die Zeit der Nostalgie: Betrachtungen aus dem Alltag eines afrikanischen Midlifers  ■ Von Niyi Osundare

Im Zentrum einer unserer Städte, nur einen Steinwurf von jenem Mahnmal entfernt, in dem der Unbekannte Soldat in seinem annonymen Grab dahinschlummert, flattert die nigerianische Fahne im Wind. Im strikten Sinne ist das, was da vom Mast hängt, nur der Rest dessen, was einst eine Flagge war. Denn 1984 in der Hochzeit des drakonischen Nationalismus der Generäle gepflanzt, hat diese Flagge seitdem mehrere Jahreszeiten durchgemacht – von der Sonne verbrannt, vom Wind gebeutelt, vom Regen durchtränkt.

Als ich die Fahne vor einigen Monaten wieder einmal sah, wußte ich, daß ihr ärmliches Gewebe kurz vor dem Zerfall stand. Das Grün war verwaschen und fahl; das Weiß im Zentrum hatte das ölige Braun einer Schnellimbiß-Serviette angenommen. Der Flaggenmast stand weiter loyal in seinem Loch, allerdings vom Rost übermannt an den Stellen, wo die neun Jahre alte Anstrichfarbe ermüdet und abgeblättert war.

Doch noch immer flattert die Fahne im Wind, mit Pocken übersät, auf obszöne Weise schmutzig. Smart uniformierte Polizisten und Soldaten ehren sie immer noch mit drahtigen Saluten. Und noch immer schwebt die Fahne im Rhythmus der Nationalhymne. Sie ist ein ältlich-müder Zuhörer, wenn unter ihr Kinder kichernd den nationalen Schwur daherplappern.

Ganz so wie diese Fahne ist Nigeria kaputt. Nigeria, das einst den einsamen Ruf eines Landes genoß, in dem nichts mehr funktioniert, steigt rasch in jene höhere Stufe auf, in der nichts mehr lebt – ein Friedhof zerstobener Hoffnungen und Bestrebungen, in dem langgehegte, teure Pläne in den Dunkelkammern unserer nationalen Elektrizitätsgesellschaften verschwinden oder aber in den höllischen Schlünden trockener Wasserleitungen verbrennen. Nigeria sieht aus wie ein Autowrack. Seine Batterie ist schwach, weil niemand sie auflädt; seine Schrauben und Muttern lösen sich und übersäen die Straße. Es mehren sich knirschende Geräusche in den Gelenken, denn Gerechtigkeit und Gleichheit sind, wie Diesel und Benzin, zu knappen Gütern geworden.

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Stellen Sie sich das folgende vor: In den ersten drei Monaten dieses Jahres zogen die Grundschüler der Nation durch die Straßen, viele barfuß, halbnackt und hungrig, zu allen nur denkbaren kleinkriminellen Tätigkeiten rekrutiert, vor allem in den schummrigen Gassen unserer Städte. Ihre Lehrer befanden sich im Streik wegen zum Teil seit Monaten nicht bezahlter Gehälter. Drei volle Monate in einem neunmonatigen Schuljahr. Für Nigerias Bundes- und Landesregierungen aber war es business as usual. Höllisch verkleidete Kraftradfahrer als Vorreiter offizieller Konvois terrorisierten weiterhin mit ihren ohrenbetäubenden Sirenen die Straßen; Bauverträge und ihre Begleiter, die giftigen Hand- outs, wurden weiterhin verteilt; verschwenderische Staatsbanketts wurden keineswegs entmutigt, während völlig sinnlose Geldspenden weiterhin in den Taschen glücklicher Empfänger landeten. Von ihren Ghostwriters ermutigte Staatsbeamte redeten weiterhin auf die glücklosen Nigerianer ein, benutzten gestanzte Wendungen von einem „gerechten“ und „egalitären“ Land, von „gigantischen Schritten nach vorn“ und „gewaltigen Leistungen“. Währenddessen aber lagen die Gehirne der Nation brach, unsere Hoffnungen auf die Zukunft wurden im Keim erstickt und trotzdem redeten die Mächtigen von business as usual.

Wenig später begannen die Hochschulen ihren eigenen Streik. In den Lehrerbildungsanstalten wurde die Kreide weggelegt, die polytechnischen Schulen schlossen ihre Labors, die Universitätsprofessoren legten ihre Roben nieder. Und die Reaktion der Regierenden? Drohungen, Drohungen und mehr Drohungen, dann ein Dekret, das die Bildung plötzlich und irrationalerweise zu einem „wesentlichen Dienst an der Nation“ erklärte. In den Kasernen, in den machtvollen Büros des Justizministers mag diese Lösung der starken Faust beeindruckend wirken, doch selbst ein gewöhnlicher Schüler weiß, daß dieses miese Gesetz nur die Glut der Krise weiter anfacht. Die Türen der Schulen bleiben geschlossen, die Gehirne liegen weiter brach.

Wann haben Sie zuletzt einen Grundschulabsolventen getroffen, der seinen Namen korrekt schreiben konnte, oder einen Oberschüler, der wußte, in welchem Körperteil das Herz zu lokalisieren wäre? Haben Sie etwa noch keinen Oberstufenstudenten der Anglistik gefunden, der nicht weiß, was eine Metapher ist, oder der meint, Präposition sei der Name einer Stadt unweit von Yokohama?

Selbst in den Universitäten gibt es häufig keine Kreide mehr, die Bibliotheken sind leer, die Regale der Buchhandlungen tragen allein noch Staub und Spinnweben, den Labors gehen routinemäßig die Chemikalien aus, und die Elfenbeintürme produzieren „Naturwissenschaftler“, die nie ein Praktikum absolviert haben. Ein Weiser sagte einst: Wenn du wissen willst, wie es um die Gesundheit einer Nation bestellt ist, wirf einen heimlichen Blick in ein Klassenzimmer. Nie in der Geschichte unseres Landes war das Bildungswesen so gelähmt wie heute; nie hat man Unwissenheit so vergöttert.

Wie viele Zähne sollen wir im Gebiß jenes sagenhaften Wesens Adepele zählen? Dort zählen wir 500 Schneidezähne, 1.000 Eckzähne und unzählige weitere, verborgen in den Tiefen der Backen. Wie viele sollen wir zählen? Wo sollen wir anfangen?

Beginnen wir mit der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Nepa, die zwei Jahrhunderte nach Faradays erhellender Erfindung es immer noch nicht schafft, unsere Nächte zu erleuchten und die Räder unserer Industrie am Rollen zu halten. Drücken Sie auf den Lichtschalter, und schauen Sie zu, wie Nepa den Raum mit großzügiger Dunkelheit füllt; die Klimaanlage hängt an der Wand wie ein schlaffer Sack, der Deckenventilator läßt seine Flügel hängen wie ein im Flug getroffener Albatros. Um dem Erstickungstod zu entkommen, reißen Sie das Fenster auf – und ein Troß Moskitos stürmt für ein völlerisches Fressen in den Raum. Sie öffnen den Kühlschrank – und der Gestank faulenden Fleisches trifft Sie wie ein böser Messerstich. Sie stolpern zum elektrischen Herd – und das Ding heizt Ihren Hunger mit einer hundenäsigen Kälte. Sie retten sich zur Gaskocher-Alternative – nur um zu entdecken, daß die Gasflasche leer ist, seit die Regierung auch Flüssiggas auf die Liste „nicht verfügbarer Güter“ gesetzt hat. Und Sie stecken immer noch voller Jammern über Ihren vor Hunger schreienden Magen, als der Nachbar hereinstürzt, sein Gesicht eine einzige Schmerzensmaske: Sein einziges Kind ist gerade ins große Jenseits befördert worden – es befand sich in der kritischen Phase einer Operation, als Nepa das Licht seiner Seele ausknipste.

Natürlich hat Nepa absolut bodenerschütternde Gründe für diesen Stromausfall. Wer könnte jene teuflischen Schlangen vergessen, die vor nicht allzu langer Zeit Nepas Elektrokabel auffraßen und das ganze Land in Finsternis stürzten. Und dann ist der Wasserstand im Damm von Kainji natürlich ebensooft zu niedrig wie zu hoch. Die Öffentlichkeitsabteilung von Nepa ist vermutlich erfindungsreicher als die Organisation insgesamt, deren Versagen sie stets mit so großen Einsatz wegzuerklären versucht.

Die schmerzhafte Tatsache ist, daß es in Nigeria ständig keinen Strom gibt. Die Kundschaft reagiert darauf mit einer ständigen Proliferation an Dynamos und Generatoren unterschiedlichster Form und Größe aus den verschiedensten Teilen der Welt – und die geben dann alle ihren Gestank und Lärm von sich. Nigerianer, die älter sind als 40, erinnern sich voller Wehmut an die Tage der Electricity Corporation of Nigeria. Und sie fragen sich, warum die Regierung uns der Nepa-Dunkelheit ausgeliefert hat.

Sie fragen sich auch, warum die Wasserhähne heutzutage ständig trocken sind und wasserbedingte Krankheiten wie Typhus und Cholera ganze Städte befallen, während der Guineaworm ländliche Gegenden heimsucht. Sie fragen sich, warum die Telefone heute toter sind als je zuvor, ungeachtet der Milliarden, die die International Telephone Company in den letzten Jahren aufgefressen hat. Sie zeigen auf schlaglochübersäte Straßen, die noch vor weniger als zwei Jahrzehnten geteert und ordentlich waren, und sie fragen sich, wann je das Wort „Unterhaltung“ seinen Weg zurück ins nigerianische Wörterbuch finden wird.

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Es ist heutzutage nahezu unmöglich, in Nigeria älter zu sein als 40 und nicht von jenen good old days, den guten alten Tagen zu reden, als Nigerianer wie freie Menschen durch Flughäfen fremder Länder schlendern konnten, ohne als potentielle Drogenschmuggler dem Beschnuppern von Schnüffelhunden oder der anatomischen Beleidigung durch Körperuntersuchungen ausgesetzt zu sein. Dies sind die Tage der Nostalgie in Nigeria. Wir greifen auf unser Gedächtnis zurück, um unseren Geist gegen die Angriffe dieser schlimmen Zeit zu stärken.

Nun ist Nigeria allerdings nie ein Paradies gewesen, doch die absolute Hölle, zu der das Land in den letzten acht Jahren geworden ist, wäre vor zwei Jahrzehnten unvorstellbar gewesen. Ein Schurke in unserer Tragödie der Angst ist zweifellos das „Strukturanpassungsprogramm“, dessen schwächende Intervention mit der Machtübernahme durch General Babangida zusammenfällt. Getreu der Strukturanpassungstheologie gilt heutzutage: Je mehr Sie zahlen, desto weniger bekommen Sie als Leistung. Die Regierung nennt das den „Deregulierungsprozeß“, jenes Monster, das in zweifelhafter Zwiesamkeit mit den „Marktkräften“ agiert. Selbst der Währungsfonds IWF und die Weltbank wissen, daß Nigeria der Idee der Strukturanpassung einen schlechten Ruf verpaßt hat.

Dies ist zweifellos die Epoche von Regierung ohne Regieren, von Macht ohne Verantwortung. Es gibt sogar eine Menge Leute, die fragen, ob wir überhaupt noch eine Regierung haben in diesem Lande. Unsere Bürger sehen und fühlen in ihrem ganzen Leben keine Regierung, es sei denn, finster dreinblickende „Sicherheitskräfte“ stürmen herein und schließen eine „feindliche Presse“ oder drakonische Dekrete von den fernen Burgen der Macht donnern auf die Bürger herab.

Wir sind eine Nation im Schlingern. Unser Staatsschiff treibt hilflos auf hoher See mit einem altmodischen Kompaß und ohne Ruder. Die Menschen winseln und schreien: Merkt Ihr denn nicht, daß wir sinken? Doch die Rufe werden von den scharfen Befehlen bewaffneter Wächter und den verführerischen Serenaden der Lobsänger erstickt.