: Auch eine Schreckschußpistole kann töten
In Berlin wird aufgerüstet: Schreckschußwaffen, Kampfmesser und Elektroschock-Geräte finden reißenden Absatz – vor allem bei Jugendlichen / Auf Initiative Berlins soll jetzt das Waffengesetz verschärft werden ■ Von Bernd Pickert
„Is' mein Messer fertig?“ fragt Frank* im „Souvenir-Shop Otto Boenicke“ im Europa-Center am Tauentzien. Ein kurzer Griff ins Regal, und zwischen Pistolen, Tränengasspray und „Gotcha“-Waffen zieht die Verkäuferin ein sehr flaches, schwarzes „Gaucho- Kampfmesser“ heraus. Das Messer hat eine Halterung mit schwarzen Bändern. Frank will es flach am Unterarm befestigen, aber da hält es nicht. Er gehört zum privaten Sicherheitsdienst im Europa- Center. Eine solche Waffe darf er bei seinem Job gar nicht tragen. „Er will ja nur mal sehen, wie das aussieht!“, erklärt sein Kollege Sven* und grinst. Frank krempelt das Hosenbein hoch, bindet das Messer an die rechte Wade, schiebt die Hose darüber. Nun hält's. Solche „Experten“ sind nicht die Normalkundschaft im „Souvenir- Shop“. „Wir beraten Sie für Ihre Sicherheit“ steht groß an der Tür. „Jeder Bürger weiß, daß ihm niemand hilft, deshalb muß er sich selbst schützen“, meint die Verkäuferin, die ihren Namen nicht genannt wissen will.
Kalaschnikow für 1.500 Mark
Die Privatisierung des Gewaltpotentials geht rasend schnell. Schätzungen gehen von zehn Millionen Schreckschuß- und Gaswaffen in den Händen der BundesbürgerInnen aus. Dazu kommen noch rund 20 Millionen anderer Schießprügel im Besitz von Jägern, Sportschützen und den wenigen, die in Deutschland einen Waffenschein erhalten. Nicht mitgerechnet sind die illegalen Waffen, die von der abziehenden Sowjetarmee in Umlauf gebracht wurden. Da bekommt man zum Beispiel im brandenburgischen Buckow in der Dorfkneipe schon mal eine Kalaschnikow mit 60 Schuß Munition für 1.500 Mark angeboten.
Allein in Berlin stieg laut Polizeistatistik die Zahl der Straftaten mit scharfen Schußwaffen von 1991 bis 1992 um fast die Hälfte, Tendenz anhaltend. Auch die legale, erlaubnisfreie Bewaffnung geht rasch voran. Nach Angaben des Herstellerverbandes für Jagd- und Sportwaffen waren im Jahre 1990 schon 600.000 Gas- und Schreckschußwaffen verkauft worden – 1992 waren es mit 1,1 Millionen fast doppelt so viele. Und das, obwohl die nachholende Bewaffnung, der spezifische „Ost-Boom“ der Jahre 1990 und 91, längst vorbei ist. „Wir haben bald mehr mit Schreckschuß- als mit scharfen Waffen zu tun“, erzählt der zuständige Sachverständige bei der Polizeitechnischen Untersuchungsstelle (PTU). Denn mit den täuschend den Originalen nachgebildeten Waffen wird sich ja nicht nur verteidigt, es wird bedroht, überfallen und gelegentlich auch geschossen.
Dabei bleibt es längst nicht so harmlos, wie der Begriff „Schreckschußpistole“ es anzeigt. „Auf kurze Entfernung, beispielsweise als aufgesetzter Schuß, kann das tödlich wirken,“ sagt der PTU-Experte. Die Wirkungen der Waffen demonstriert die Polizei mittlerweile als Aufklärungsunterricht an Berliner Schulen. Da wird dann mit einer Gaspistole aus kurzer Distanz auf Wassermelonen geschossen – aber wer weiß schon, ob's die Kids nicht „geil“ finden, wenn die Melone dann in tausend Stücke zerplatzt. Daß Aufklärung bei Jugendlichen not tut, steht allerdings außer Zweifel. Denn obwohl die Waffen nur an Volljährige frei verkauft werden dürfen, gilt es als offenes Geheimnis, daß gerade Jugendliche längst zu den Hauptkunden zählen. Da geht es nicht anders zu als beim Silvesterfeuerwerk: Der große Bruder, Freund, Onkel oder Vater wird schon mal zum Einkaufen vorgeschickt. Und 199 Mark für das originalgetreu nachgebaute James-Bond-Modell „Walther PPK“ zuzüglich 39,90 Mark für das 10-Schuß-Magazin nehmen sich im Teenager-Geldbeutel in den Zeiten der Markenjacken noch erschwinglich aus.
Jugendliche sind Hauptabnehmer
Rund die Hälfte aller Täter, die die Polizei im Zusammenhang mit Schußwaffen registriert, sind unter 25 Jahre alt, ein Viertel unter 18. So verwundert es nicht, daß sich bei „Waffen-Wiedenhoff“ im Europa-Center die Kids genauso die Nase am Schaufenster platt drücken wie nebenan beim „Souvenir- Shop“. Dort sind Frank und Sven mittlerweile ins Erzählen gekommen. Die Waffen, die sie im Wachdienst tragen dürften, würden ja nichts taugen. „Dreimal hat 'n Kollege von mir 'nem Besoffenen mit unserm Gummiknüppel auf'n Kopp gehauen, dreimal immer kurz über die Augenbrauen. Und? Keine Wirkung!“ Sehnsüchtig schaut Sven hinter den Verkaufstresen auf einen jener Spezialholzknüppel mit abgewinkeltem Griff, die man ja leider nicht mehr benutzen dürfe.
Oft kann nicht einmal auf kurze Distanz unterschieden werden, ob es sich um eine Schreckschuß- oder eine scharfe Waffe handelt. Originalmodelle der Marken Mauser, Walther, Heckler&Koch und Browning baut zum Beispiel die Firma Umarex aus „Arnsberg im idyllischen Sauerland“ nach, „als Spiegelbild der großen Vorbilder – mit Qualität aus Tradition“, wirbt der Katalog. Gerade diese täuschend echten Nachahmungen machen der Polizei zu schaffen, denn jeder, der damit bedroht wird, muß zunächst davon ausgehen, es mit einer scharfen Waffe zu tun zu haben.
So fordern Schußwaffenexperten immer mal wieder, Schreckschußpistolen sollten ein völlig anderes Design aufweisen, am besten grellbunt angemalt. „Man will doch, wenn es um die Verteidigung geht, damit knallen, andere aufmerksam machen oder eventuell noch Reizgas versprühen. Muß das dann ein waffenähnlicher Gegenstand sein?“ fragt der PTU-Experte. Aber auch er weiß, daß er sich mit diesem Vorschlag nicht durchsetzen wird, zu stark ist die Lobby der Waffenhersteller und der Sammler.
Die Industrie verteidigt mit allen Mitteln das im derzeit geltenden Waffengesetz verbürgte Recht, „daß man der Bevölkerung wenigstens ein Mittel überläßt, was noch Eindruck macht“ – wie es der Sprecher des Herstellerverbandes für Jagd- und Sportwaffen, Herr Müller-Böhm, beschreibt. So wird denn auch eine Gesetzesinitiative, die vom Berliner Senat Ende vergangenen Jahres in den Bundesrat gebracht wurde, vom Herstellerverband mit Unverständnis betrachtet. In die ohnehin geplante Novellierung des Waffengesetzes soll ein Passus eingearbeitet werden, der auch für Schreckschußwaffen entweder einen Waffenschein oder eine Registrierungspflicht oder beides vorsieht.
Industrie gegen Verschärfung
Für Herrn Müller-Böhm sind die Berliner in dieser Hinsicht völlig abnorm. „Da kommt ein paarmal im Jahr sowas vor. Niemand bedauert das mehr als wir, aber es ist relativ gesehen gar nicht wahrnehmbar. Nur in Berlin wird jedes Vorkommnis zu 'ner Staatsaktion gemacht.“ Ganz so kann es nicht sein, denn die Berliner Initiative hat den Bundesrat mittlerweile einstimmig passiert. Bis zur Verabschiedung eines neuen Gesetzes allerdings wird es noch dauern – noch liegt nicht einmal der konkrete Entwurf auf dem Tisch. In dieser Legislaturperiode, so vermutet etwa der Referent für Waffenrecht bei der Senatsinnenverwaltung, Gerd Matzneck, wird das wohl nichts mehr werden.
Der Boom hält an – und wie viele Waffen bis zur endgültigen Novellierung unregistriert auf dem Markt sein werden, ist heute nicht abzuschätzen. „Angesichts der Zunahme der Gewaltbereitschaft fragt man sich, ob's nicht schon zu spät ist“, sagt Matzneck. Wohl wahr, und das nicht nur aus philosophischen Gründen.
Als im vergangenen Oktober der Taxifahrer Helmut Güttler in Berlin ermordet wurde, geschah das mit einer umgebauten, „scharf gemachten“ Schreckschußpistole. Zwar behauptet die Industrie, man könne die Waffen heute nicht mehr umbauen. Es seien so viele Sicherungen eingebaut worden, meint Verbandssprecher Müller- Böhm, daß Umbauten keinen Sinn mehr hätten: „Wer bei den Modellen, die heute auf den Markt kommen, etwas umbauen will, der baut sich besser und einfacher etwas selber.“
Der PTU-Waffenexperte sieht das ganz anders: „Alle Waffen können umgebaut werden,“ sagt er. Und auch Gerd Matzneck von der Innenverwaltung registriert „Umbauten in großem Umfang“. Tatsächlich spricht das bisherige Waffengesetz davon, daß nur jene Waffen zuzulassen seien, die auch durch eine „Umarbeitung mit allgemein gebräuchlichen Werkzeugen“ nicht scharf gemacht werden können. Unter „allgemeingebräuchlich“ verstand man bei der Abfassung des 30 Jahre alten Gesetzes einen Hammer, eine Zange, einen Schraubenzieher.
Die Heimwerkerbewegung hat dieses Bild längst verändert – das Gesetz hinkt hinterher. Schlagen, hauen und stechen kann man freilich mit allem. Doch die Spezialindustrie rüstet weiter, „zur Verteidigung“, versteht sich. Die Kellnerin mit dem Butterfly-Messer, die alte Oma mit einen 28 Zentimeter langen „45.000-Volt-Paralyser-Silver- Stick“, der wie ein grosser Knüppel am Gürtel zu tragen ist? „Ich darf nicht darüber nachdenken, wozu der Kunde die Waffe benutzen will“, sagt die Verkäuferin im „Souvenir-Shop“.
Ihre Kollegin bei „Sportlepp“ ein paar hundert Meter weiter denkt schon gelegentlich darüber nach, wozu die Kids eigentlich all die Baseball-Schläger verwenden, die dort guten Absatz finden. „Manchen möchte man schon sagen: ,Kommt, geht nach Hause!‘“ Das damit Baseball gespielt wird, glaubt sie nicht.
So rüstet einer gegen den anderen. Private Sicherheitsdienste, ängstliche BürgerInnen, Möchtegern-Rambos, Räuber und Beraubte decken sich in den gleichen Läden ein, bedient von netten Verkäuferinnen, die freundlich darauf hinweisen, daß das große Samurai- Schwert nur zur Dekoration angeboten wird oder daß man die farbkugelverschießenden „Gotcha“- Waffen nur in abgetrennten Gebieten verwenden darf und bitte auch nicht mit Glasmurmeln als Munition, denn das könne gefährlich sein. Die Sicherheitsleute Sven und Frank verabschieden sich aus dem „Souvenir-Shop“, sie gehen „arbeiten“. In zivil. Frank hat das „Gaucho-Kampfmesser“, das er nicht tragen darf, nicht wieder abgenommen.
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