Einmal in der Woche ist gemeinsamer Ausgehtag

■ Der Freundeskreis der Nervenklinik Spandau betreut psychisch Kranke in Wohngemeinschaften / Bis 1997 werden in Berlin 1.550 psychiatrische Betten abgebaut

Mit Walkman am Ohr und Zeitung in der Hand läuft Bernd Liebert* aufgeregt durch seine kleine Zweizimmerwohnung unterm Dach. Er habe nachgeschaut, wann „Jurassic Park“ im Kino läuft, erzählt er seinem Betreuer mit leuchtenden Augen, und möchte jetzt doch bitte sofort losfahren.

Der 44jährige Bernd Liebert ist „minderbegabt“ und hat sogenannte „psychotische Episoden“. Kein einziges Wort komme ihm dann über seine Lippen oder er rede wie ein Wasserfall, sagt Sozialpädagoge Achim Bodendorf. „Manchmal ruft er auch Versandhäuser an und bestellt riesige Mengen oder unterschreibt Versicherungsverträge.“ Schon seit er sieben ist, ist Bernd Liebert in psychiatrischer Behandlung. Von 1970 bis 1992 war er Patient der Nervenklinik Spandau (NKS). Dort hat er auch seine Frau Brigitte kennengelernt. Seit einem Jahr wohnt das Paar in einer betreuten Wohngemeinschaft des „Freundeskreises der Nervenklinik Spandau“. Die Aufgabe des Freundeskreises ist es, psychisch kranke Menschen nach einem meist jahrelangen Klinikaufenthalt wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Der Versuch, psychisch kranke PatientInnen zu „enthospitalisieren“ und ambulant zu behandeln, kam Mitte der siebziger Jahre aus Italien, wo ein Teil der psychiatrischen Großkliniken aufgelöst wurde. 1975 empfahl eine Enquetekommission des Bundestages, Landesnervenkliniken zu dezentralisieren und ambulante alternative Projekte zu entwickeln.

In Berlin sollen bis 1997 nach den Plänen des Gesundheitsstaatssekretärs Detlef Orwat (CDU) 1.550 psychiatrische Betten abgebaut werden, allerdings eher der leeren Kassen wegen als aus humanitären Gründen, befürchtet Achim Bodendorf. Pro 1.000 EinwohnerInnen sind dann 0,8 psychiatrische Betten vorgesehen. Für die NKS, die neben Spandau auch Wilmersdorf und Charlottenburg versorgt, bedeutet das einen Abbau von rund 210 psychiatrischen Plätzen.

„Wir brauchen deshalb für die Zukunft mindestens doppelt so viele betreute Wohngemeinschaften“, fordert der Sozialapädagoge Achim Bodendorf, der mit einer Kollegin Bernd Liebert und sieben weitere psychisch Kranke in der Radelandstraße betreut. Im Moment gibt es vom Spandauer Freundeskreis, der überwiegend ehemalige PatientInnen der NKS übernimmt, 25 Plätze in betreuten Wohngemeinschaften – weitere zwanzig psychisch kranke Menschen leben in Einzelwohnungen und werden nur nach Bedarf von einer SozialarbeiterIn besucht und betreut.

Wohngemeinschaften reichen aber nicht aus, um aus der Psychiatrie entlassene PatientInnen umfassend zu betreuen: So fordert Klaus Zindel, Geschäftsführer der „Brücke“, speziell für Spandau einen Krisenotdienst und weitere Beschäftigungstagesstätten mit „niedrigschwelligen“ Arbeitsangeboten für die PatientInnen. Der freie Träger „Brücke“ versorgt ehemalige PatientInnen des Krankenhauses Havelhöhe. Dort soll nach Willen von Staatssekretär Orwat die gesamte psychiatrische und neurologische Abteilung geschlossen werden. „Spandau hat im Vergleich zu den anderen Bezirken ein relativ großes Angebot von betreuten Wohngemeinschaften, aber es gibt immer noch viele Menschen, die nach ihrem Klinikaufenthalt in die Obdachlosigkeit entlassen werden, weil keine Plätze vorhanden sind“, so Zindel.

In den Wohngemeinschaften wird versucht, die psychisch kranken Menschen wieder an das „normale“ Leben zu gewöhnen: So müssen die acht aus der Radelandstraße selbständig ihre Sozialhilfe oder ihre kleine Rente verwalten und sind nachts und am Wochenende ohne BetreuerInnen. Achim Bodendorf sieht sich als Betreuer, „der die BewohnerInnen freundschaftlich überwacht“. Einmal in der Woche sei gemeinsamer „Ausgehtag“, erzählt er, außerdem sind psychologische Einzelgespräche für die Kranken obligatorisch. Seitdem Bernd Liebert in seiner kleinen Wohnung in der Radelandstraße lebt, sei er viel selbständiger geworden, erzählt Achim Bodendorf.

Daß Bernd Liebert aber jemals völlig unabhängig ohne Medikamente mit seiner Frau leben wird, kann sich sein Betreuer nur schwer vorstellen: „Dazu ist seine Krankheit einfach zu schwer.“ Achim Bodendorf hofft, daß zukünftig immer weniger Menschen in psychiatrische Krankenhäuser, in denen Fürsorge und Pflege mangels Personalschlüssel viel unzureichender sind, eingewiesen werden müssen. „Viele Ersterkrankungen könnten in betreuten Wohngemeinschaften wesentlich besser als im Krankenhaus behandelt werden.“ Nur die müssen erst einmal im ausreichenden Maße bereitgestellt werden. Julia Naumann

* Name von der Red. geändert

Unter dem Motto „Einer flog übers Kuckucksnest“ lädt die NKS in der Griesingerstraße 27 heute zwischen 9.30Uhr bis 16Uhr zu einem Tag der Offenen Tür ein.