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Planlos funktionieren

Rotterdam, Modellstadt der Fünfziger. Eine Ausstellung in Münster  ■ Von Christoph Danelzik

Aus stadtplanerischer Sicht besaßen die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs durchaus positive Momente. Angesichts der Einäscherung ganzer Stadtviertel wurde kräftig in die Hände gespuckt und ein modernes Stadtbild nach dem anderen entworfen. Bedeutend waren vor allem die Entscheidungen über die Straßenverläufe und die Stadtverdichtung.

Weil das Straßenraster das städtische Langzeitgedächtnis bildet, bewirkt seine Veränderung einen sichtbaren Bruch mit der Vergangenheit. Das Berliner Kulturforum an der Potsdamer Straße wurde zum Symbol des „Stunde-Null“- Gefühls, weil es die Rekonstruktion des ehemaligen Regierungsviertels und das Zusammenwachsen der geteilten Stadt in ihrer Mitte vielleicht endgültig verhindert.

Auch die Verteilung der städtischen Funktionsbereiche stand in den Ruinenstädten zur Disposition. Die Frage, wie viele Menschen wo zu wohnen und zu arbeiten hatten, wurde neu beantwortet. Ehemals dicht besiedelte Viertel blieben brach oder verschwanden unter Schnellstraßen und Bürosilos, wie die Hamburger Viertel Hammerbrook und Altstadt. Statt dessen wurden die Menschen in Trabantenstädte gesteckt, die oft nach den Flurnamen der Äcker heißen, aus deren Boden sie gestampft wurden.

Rotterdam ist die Stadt, in der diese Entwicklungen am radikalsten betrieben wurden. Im wesentlichen war sie ein verwildertes Produkt kapitalistischen Prosperitätsdenkens aus dem vorigen Jahrhundert. Deshalb wurden bereits in den 1920er Jahren Ideen zur Neugestaltung der Stadt diskutiert. Diese Diskussion wird seither beinahe permanent fortgesetzt. Und wie kaum eine andere Stadt veränderte sich Rotterdam durch die Umsetzung der planerischen Sandkastenspiele.

Der Westfälische Kunstverein vergleicht in seiner Ausstellung die Umsetzung zweier gegensätzlicher Stadtkonzepte – Rotterdam versus Münster. Das Beispiel Münster liegt draußen vor der Tür; die jüngere Baugeschichte Rotterdams ist im Ausstellungssaal dokumentiert. Mit dieser ungleichen Gegenüberstellung soll die Frage neu gestellt werden, wie „die“ Stadt am Ende des 20. Jahrhunderts auszusehen habe. Münster, vor fünfzig Jahren ebenfalls zusammengebombt, wurde nach dem Krieg weitgehend originalgetreu rekonstruiert. Möglich war diese Form des Wiederaufbaus wegen der gründlichen Dokumentation der Altstadt, entscheidend aber war der politische Wille. Im Gegensatz zu Rotterdam verstand sich die westfälische Provinzstadt nicht als moderne Großstadt.

Angesichts der augenscheinlichen Polarität der realen und dokumentierten Städte außer- und innerhalb des Museums stellt sich die von den Ausstellungsmachern intendierte Leitfrage von selbst: Sind die Kategorien Moderne und Tradition auf die Stadtgestaltung der Gegenwart und Zukunft noch sinnvoll anzuwenden? Mit schlichtem Ja oder Nein läßt sich die Frage nicht abtun. Allerdings verschärft die Ausstellung das Problembewußtsein erheblich – überraschend, denn die gezeigten Pläne und Fotos bieten keinen sinnlichen Genuß. Im Gegensatz zu vielen Architekturausstellungen werden die Objekte nicht zu autonomen Kunstwerken aufgemotzt – andererseits hat man sich wohl auch kein Bein ausgerissen, der vom früheren Kunstvereinsleiter Friedrich Meschede angeregten Ausstellung zu einer ansehnlichen Präsentation zu verhelfen.

Am 14. Mai 1940 hatte ein deutscher Luftangriff die Rotterdamer Innenstadt zerstört. Nur eine Handvoll Gebäude blieb stehen. Schon im September warteten die Nazis mit Aufbauplänen auf – kein Wunder, denn solche hatten sie schon vor Kriegsbeginn erarbeiten lassen.

Wichtiger als diese absurde Episode sind die holländischen Pläne. Anhand des ausgestellten Materials läßt sich eine Stilabfolge erkennen. Sie sind zu sehen in chronologischer Folge, von der Jahrhundertwende angefangen; dieser zeitlichen Gliederung ist eine typologische verbunden. Vor 1940 dominieren architektonisch-ästhetischen Entwürfe, nach dem Krieg werden sie von ideologischen Konzepten abgelöst. Was unglaublich klingt, zeigen die Pläne an der Wand: Rotterdam wurde ohne architektonische Planung wieder aufgebaut.

Der Stadtplaner Witteveen, tätig bis 1944, plante noch geometrisch. Wie ein traditioneller Gartenkünstler schuf er Grundrißbilder. In ihrer Umsetzung hätte die Stadt ein akzentuiertes Zentrum erhalten, wäre sie durch Achsen, Plätze und repräsentative Bebauung strukturiert worden. Nach dem Ende des Kriegs war dergleichen Planungskunst diskreditiert, sie galt wegen ihrer impliziten Hierarchisierung der Stadt als Ausdruck totalitären Denkens. J.A. Ringers zeichnete einen Plan, der das Ideal eines Stadtorganismus verwarf. Nicht Urbanität war gefragt, sondern das Funktionieren von Verkehr, Wirtschaft und Wohnen. Um den Bruch mit der Vergangenheit zu vervollständigen, wurden sogar intakte Gebäude und die unterirdischen Versorgungsleitungen und Kanalisation geschleift.

Die für die umgesiedelte Bevölkerung errichteten Trabantenstädte sind keine städtischen, sondern dörfliche Gebilde. Ein architektonisches Stadtzentrum gab es nicht mehr. Die Haupteinkaufsstraße Lijnbaan, Vorbild vieler Einkaufszonen, war und ist nur zu den Geschäftsöffnungszeiten belebt.

So hatte die radikale Modernisierung Rotterdams am Ende der fünfziger Jahre dazu geführt, daß moderner Städtebau künftig gleichgesetzt wurde mit ökonomischem Funktionieren, obwohl soziale Anliegen (saubere, helle Wohnungen für alle BürgerInnen) vordergründig dominierten. Sozialpsychologische Überlegungen, die die Schattenseiten des Rotterdamer Modells verdeutlichen, erhielten erst in den Sechzigern Einfluß.

Gegenentwürfe kleinstädtischen Musters wurden seither erprobt, am erfolgreichsten war die Adaption der nordafrikanischen Kasba-Siedlung. Beziehen sich solche Konzepte stets auf Stadtteile, so bewegt sich die gegenwärtige Diskussion zurück in die Vorkriegszeit: Unter dem Stichwort „Verdichtung“ dient Manhattan als Vorbild einer urbanen, das heißt hektischen City. Unter kolossalen Anstrengungen werden Innenstadt und alte Hafengelände neu verplant, Stadtteile errichtet, Verkehrswege umgelegt und Industriezonen ausgewiesen. Eine ganze Stadt wandert westlich, dem Hafen hinterher, der sich der Küste nähert.

Und wieder scheint es, so zeigt es die Münsteraner Dokumentation, als gerieten die EinwohnerInnen dabei in die Baggerzähne. Um so verdienstlicher ist die Mühe des Westfälischen Kunstvereins, die Zukunftsperspektive der Stadt zu problematisieren; die Rotterdam- Austellung wird dabei kein Einzelprojekt bleiben.

„Die neue Stadt. Rotterdam im 20. Jahrhundert. Utopie und Realität“. Westfälischer Kunstverein Münster, bis zum 17. Oktober 1993. Katalog (Hatje Verlag) 35 DM, im Buchandel 68 DM

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