: Zeit des jungen Künstlergehirns
■ Tragikomödie in den Kammerspielen, Criminal im Jungen Forum und eine Performance im dunklen Spritzenhaus
Le Caprice de Marianne
Theater ist nicht immer günstiger als das Leben. Manchmal etwa lernt man bei fünf Bier am Tresen mehr über emotionale Beschaffenheiten als nach dem Kauf einer Theaterkarte. Bei den Discount-Preisen, zu denen die Regie-Nachwuchskünstler beim Festival Die Wüste lebt! ihre Arbeiten in den Kammerspielen vorzeigen, lohnt sich dann aber doch der Versuch nachzusehen, was hilfreicher ist. Hier: die tragische Liebeserzählung des Schmalzpoeten Alfred de Musset Die launische Marianne als Commedia dell'arte oder ein nächtlicher Absturz mit Wodka-Abschluß und Rauchvergiftung.
Ersteres ist ein Spiel um Untreue und blinde Leidenschaft, das der Regisseur Mario Holetzeck auf der leeren Bühne hinter Karnevalsmasken spielt. Da der Text Weitschweifiges und Untergründiges nicht hergibt, ist die Vervolkstheaterisierung vielleicht der richtige Handgriff für ein Resultat von netter Unterhaltung. Slapstick, Pantomime und Kapriolen auf dem Bauland der Komödie gelingen Holetzeck in ansprechender Manier. Sein Mitspieler Rainer Süßmilch hat dazu hübsche historisierende Musik für Trommeln, Gitarre und Flöte komponiert. So zieht dann eineinhalb Stunden ein fröhliches Sittenspiel über Lüsternheit und schädliche Konventionen vorüber, das nichts zu sagen hat, aber auch nicht nervt.
Und da es nach dieser handwerklich akzeptablen Unterhaltungszeit noch ein langer Abend werden kann, läßt sich der Tunnelblick in die Herzen ja noch in der Trinkhalle suchen. Der Preis ist dann allerdings doppelt gezahlt.
Till Briegleb
Das Geheimnis des entwendeten Briefes
Ob ein Bühnenspiel gelingt, hängt meist in erster Linie von ganz profanen, technischen Überlegungen ab: Das Haus, das Stück und die Menschen auf, vor und hinter der Bühne müssen zueinander passen. Ganz besonders viel Geschick erfordert in dieser Hinsicht eine studentische Operninszenierung, die mit wenig Geld und Technik, mit eher unerfahrenen Teilnehmern und mit kritischen Lehrern im Publikum rechnen muß. Alle Hochachtung schon allein deshalb vor Britta Amtsberg (Jahrgang 1973), die für ihre Diplominszenierung im Fach Musiktheater-Regie mit dem „Criminal“ Das Geheimnis des entwendeten Briefes von Boris Blacher eine überaus geschickte Wahl getroffen hat.
Denn das Musiktheaterstück kommt leichtfüßig, lustig und kurzweilig daher – und zwar musikalisch wie erzählerisch. Ohne auf den Anspruch auf Originalität zu verzichten, erfordert Das Geheimnis des entwendeten Briefes nicht allzuviel Aufwand. Und es wurde (zwischen 1973 und 75) für Studenten geschrieben. Kurz nach Boris Blachers Tod fand 1975 die Uraufführung statt, anläßlich der Einweihung des Theatersaales in der Berliner Hochschule der Künste. Danach geriet das Werk in Vergessenheit.
Die Premiere am vergangenen Freitag im Forum der Hochschule für Musik und Theater war hiermit ein Ereignis per se, und sie war ein besonders erfreuliches Ereignis aufgrund der Realisierungs-Entscheidungen von Britta Amtsberg. Der Text von Herbert Brauer nach der Kurzgeschichte „Der entwendete Brief“ von Edgar Allan Poe erinnert mehr als deutlich an brechtsche Ästhetik: episch, parabolisch und verfremdend, Theater als Theater und am Ende ein Moral-von-der-Geschicht'-Song. Diese Elemente noch hervorhebend, läßt die Regisseurin vor Beginn des Stückes einen Poe autreten, der Musiker und Darsteller erstmal bezahlen muß. Und sie läßt die vier Sänger des Chores unterschiedliche kleinere Rollen spielen, deren Übergänge ineinander verfließen. „Wie war's denn eben als Prinzessin?“ fragt da ein Chormitglied seine Kollegin.
Auch im Umgang mit der Bühne zeigt Amtsberg Geschick: Sie kommt mit einem Sofa, einem Tisch und zwei Stühlen als Gestaltungselemente aus. Dennoch wirkt hier nichts übertrieben karg, wozu die gut eingesetzten Lichteffekte und die Einbeziehung von Orchestergraben und Zuschauerraum beitragen. Lars Tietje führt das achtköpfige Orchester und die acht Sänger sicher durch die Partitur, die sich durch eine teils variable Metrik und den stetigen Wechsel zwischen Schlager, Tanz und vertrackter Melodik auszeichnet. So gelingt eine vollkommen runde Opernaufführung, die einfach Spaß macht.
Nele-Marie Brüdgam
Sit Close To The Fire
Und es ward Dunkelheit. Gleich zu Beginn der Live-Performance Sit Close To The Fire des „Audio-Künstlers“ Lou Mallozzi Freitag abend im Altonaer Spritzenhaus wurde der Sehsinn der circa dreißig erschienenen Gäste zunächst aufs Abstellgleis gestellt. Das Fehlen jeglicher visueller Bezugspunkte verlagerte das Wahrnehmungsgewicht aufs Lauschorganische und realisierte zugleich eine nichtalltägliche Paradoxie: das Sehen des Nicht-Sehenkönnens.
In der Unsichtbarkeit ließen sich scheinbar belanglosen Geräuschen wie dem Knirschen eines Stuhles oder dem Quietschen von Kreide auf einer Tafel durch akustische Verstärkung nahezu dramatische Qualitäten abgewinnen. Lou Mallozzi, der im Rahmen des Kulturaustausches mit Chicago für einen Monat im Spritzenhaus weilte, geht es um die Offenbarung des „Poetischen im Gewöhnlichen“.
Symbolisch für diese Philosophie der Unmöglichkeit des Banalen stand im Verlaufe des Abends die Geschichte vom Bambus, der in seiner Blüte stirbt. Tonband-Collagen sich überlagernder Aussagen zum Thema „Bambus-Sterben“ erzeugten dabei teilweise eine Absurdität a la Helge Schneider. Das war zugleich die Stunde der akustischen Beobachtung von Beobachtungen. Ebenso interessant wie die Performance selbst waren nämlich die sich damit vermengenden Geräusche der Sitznachbarn, etwa das Gekicher, das der Hilflosigkeit über das Vorgetragene Ausdruck verlieh.
Erhellt wurde die invisibilisierende Schwärze von Zeit zu Zeit durch Taschenlampen- oder Feuerzeugbeleuchtung. Dann erblickte man Mallozzi – und seine Performance-Partnerin Cheli Mula – beim scheinbar wahllosen Posieren im Raum oder beim sprechenden Hinabtauchen in eine Schüssel Wasser. Nicht unlustig.
Anschließend gab's sogar noch Nudeln für alle. Fazit: Augen, Ohren und Bauch zufrieden.
Christian Schuldt
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