Erkenntnistopf

■ Appell zum ethischen Richtungs-wechsel im neuen „Mittelweg 36“

Die Aufmachung ist gewohnt schlicht. Auf ein titelgebendes Thema wird im Publikationsorgan des Hamburger Instituts für Sozialforschung wieder einmal verzichtet. Themenschwerpunkt der Dezember/Januar-Ausgabe ist aber die Analyse von Abwehrreaktionen, die Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker bei Lesern und Historikern hervorgerufen hat.

Goldhagens Buch stieß neben seiner provokanten These „keine Deutschen, kein Holocaust“ auch hinsichtlich seiner „Detailwahrnehmung des Schreckens“ auf Ablehnung, diese wurde von der FAZ gar als Arrangement zur Ästhetik eines Horrorfilms gebrandmarkt. Jan Philipp Reemtsma nimmt diese Abwehrhaltungen zum Anlaß, um über falsches Wissenschaftsethos und Schauergeschichtenlektüre nachzudenken, und kommt unter Berufung auf Stephen King zu dem Ergebnis, daß die Schauergeschichte „das ins Literarische abgewanderte böse Gewissen der Geschichtsschreibung“ ist. Dies drückt sich darin aus, nicht zugeben zu wollen, daß „etwas einfach passiert“.

Der erhellendste Artikel ist der von Christian Schneider. Er vergleicht Interviewtechniken der unmittelbaren Nachkriegsgeneration mit denen der späteren Studentenprotestbewegung. Erstere verzichteten auf ein beharrliches Nachfragen, letztere klagten die Mitschuld an den Nazi-Verbrechen umso vehementer an, zeigten sich dabei allerdings unsensibel für die Einsicht, daß eine naive Frage die ehrlichsten Antworten erhält. Schneider zeigt außerdem auf, warum bei Jürgen Habermas und der rebellischen Nachfolgegeneration die persönliche Offenlegung des „Erkenntniswunsches“ auf Abwehr stieß. Damit liegt Schneider voll im derzeitigen Forschungstrend, der abstrakten Gesellschaftsmechanismen autonome Organisationsformen lebendiger Erfahrung entgegenhält. Was dieser Trend für Konsequenzen in der Beurteilung von Schreckensphänomenen hat, wird besonders deutlich in einer umfangreichen Rezension zu Wolfgang Sofskys Traktat über die Gewalt. Der ethische Richtungswechsel in der Soziologie wird hier nämlich zur Kritik am besprochenen Buch verwendet. Das Scheitern des Traktats wird damit begründet, daß sich die Wahrnehmung von Gewalt beim Lesen zusehends verflüchtigt. Verstehen und Empörung, Einsicht und Mitleid gehören heute in einen Erkenntnistopf, meint das Rezensentengespann.

Das Heft im Ganzen erweckt den Eindruck, daß im Hamburger Institut für Sozialforschung entschieden für den ethischen Richtungswechsel in der Soziologie votiert wird. Stefan Pröhl