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Fangen und Fallenlassen

Tropfen für Tropfen Rache nehmen am Suppenkasper: Das Theater Thikwá und seine theatrale Installation „Zimmer zwei. Kind sucht Bad“ im Theater am Halleschen Ufer  ■ Von Katrin Bettina Müller

Der Starke will seine Suppe nicht essen und wirft mit dem Löffel. Der nuschelnde Kellner leidet an der Berliner Nörgelei und lebt nur auf in alten Operettensongs. Einer Dame in Schwarz schnürt das enge Kleid die Knie zusammen, einem Herrn mit roten Haaren drückt sie der Wuchs nach innen. Beide verkleben sich mit Pflaster, zelebrieren das Abziehen des Klebebandes, lang und länger werden die Streifen, bis sie in einem Kokon festsitzen. Dann spielen sie ein Spiel: Du liegst auf dem Tisch und rührst dich nicht, ich schubse dich runter und fange dich auf – oder auch nicht. Einer sitzt in der ersten Reihe und starrt durch das Opernglas; aber der gehört schon zum Publikum. Einer schiebt unermüdlich und unbeirrbar Tische und Stellwände über die Bühne; das ist der Regisseur, Peter Baer.

Anfangs wird mir die Zeit lang im minimalistischen Körpertheater der Gruppe Thikwá. Es dauert, bis die einzelnen Aktionen in „Zimmer zwei. Kind sucht Bad“ an Dichte gewinnen. Statt Text oder Musik rahmen verstärkte Geräusche des Atmens oder der Bewegungen die einzelnen Bilder. So läßt die lange Ania Clarissa Gürke dem Quietschen des Hockers unter ihrem Hintern oder den Biegungen ihrer Wirbelsäule lauschen. Diese akustischen Doppelgänger stellen den oft unbewußten Code der Körpersprache wie eine Fremdsprache aus.

Die Theater-Werkstatt Thikwá widmet sich der Ausbildung von geistig und körperlich Behinderten in der Zusammenarbeit mit Schauspielern. Auch in ihrer mittlerweile sechsten Produktion geht es nicht um ein Überspielen des unbeweglichen Arms, des Hinkens oder Zitterns, des Kriechens und der bewegungsfaulen Körperfülle. Statt dessen werden die Bilder nach dem anderen Zeitmaß der verschobenen Rhythmen organisiert. So kriechen mit der kleinen Martina Nitz, die nicht gehen kann, auch die beiden Schauspielerinnen Gürke und Inga Dietrich wie Schnecken über den Boden. Sie durchbrechen damit ein Tabu: Hier kann und muß der Zuschauer wirklich hinsehen, wie die Behinderung den Körper verändert hat. Es gilt kein Verstecken mehr hinter einem klinischen Begriffsapparat. Das ist zugleich eine Befreiung vom verlegenen Drüberwegsehen.

Doch nur ein Teil der surrealen Situationen erhält eine eigene Spannung. Dann geht es, wie in den Slapstickszenen vom Suppenkasper Peter Pankow, tatsächlich um Geschichten von Verfügungsgewalt und Renitenz, von beherrschten Körpern und Verweigerung. Dabei werden die Rollen getauscht: Tröpfchen für Tröpfchen zahlt die Aufsichtsperson ihrem Schützling genußvoll die Suppe zurück, die er ihr einst ins Gesicht geschleudert hat. Auch das Spiel vom Schubsen, Fallenlassen und Fangen, das Gürke und Tim Petersen immer wieder aufnehmen, erinnert nicht von ungefähr an eine körpertherapeutische Maßnahme. Doch die Einforderung des Vertrauens, der die Übung dient, tarnt hier nicht länger die Lust an der Macht über den anderen. Diese Bilder kleiner Machtkämpfe bauen der Romantisierung vor, Behinderte seien die besseren Menschen. Sie sind es sowenig wie Künstler und Pädagogen. Gemeinsamkeit muß auch unter ihnen erst erarbeitet werden, und das schafft das Theater Thikwá, ohne Mitleid und schlechtes Gewissen zu bemühen.

Ganz nebenbei streift die „theatrale Installation“ dabei Bilder der Aufbahrung und Beweinung aus der christlichen Kunstgeschichte, die den Anblick des leidenden Körpers verklärt und mit dem Sinn von Opfer und Märtyrertum belegt haben. Sie deuten an, daß das soziale Unvermögen, den Abweichungen von der Norm zu begegnen, tiefer in einer Geschichte der Funktionalisierung von Opfern wurzelt, als uns bewußt ist.

Weitere Vorstellungen: heute 21 Uhr, Sonntag 15 Uhr

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