: Hauptsache, es wirkt
■ Ein anthroposophisches Aids-Projekt sucht einen eigenen Weg im Umgang mit der Krankheit. Ein Mediziner verfolgt besondere Therapieansätze
Was ein „anthroposophisches“ Aids-Projekt ist, läßt sich kaum allgemeingültig definieren. Holger Bahr ist Mitglied von „Der Regenbogen e.V.“, einer Berliner „Aids- Initiative auf anthroposophischer Grundlage“, und formuliert es so: „Wir beschäftigen uns alle mit Anthroposophie und haben alle auf die eine oder andere Weise mit Aids zu tun.“
Was ist ein „anthroposophischer“ Aids-Mediziner? Auch nicht einfach zu erklären. Robert Gorter jedenfalls ist einer und außerdem auch Mitglied beim „Regenbogen“. Allerdings kein aktives, denn dazu lassen ihm seine Forschungen viel zuwenig Zeit. Der Doktor der Medizin und „Associate Professor“ der University of California in San Francisco pendelt zwischen dem von ihm mitbegründeten Institut für onkologische und immunologische Forschung am Berliner Krankenhaus Moabit und dem San Francisco General Hospital und beschäftigt sich dabei „seit 14 Jahren fast nur mit Aids“ – und mit anthroposophischen Therapiemöglichkeiten. „Alles, was die Schulmedizin macht, machen wir auch – und noch ein bißchen mehr.“
Was also ist „ein bißchen mehr“? Die Anthroposophie, sagt Holger Bahr, soll „die Brücke zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht bauen helfen“ und stellt damit Fragen, vor denen auch jeder HIV-Positive steht. Ob er sich bei der Suche nach Antworten auf anthroposophische Theorie einlassen will, ist natürlich seine Sache, und ob es ihm tatsächlich nutzt, kann niemand versprechen. „Irgendeine theoretische Überzeugung, irgend etwas Angelesenes hilft einem ja nicht tatsächlich.“
Misteln dagegen helfen tatsächlich. Robert Gorter kann es belegen, denn seine Kollegen und er haben inzwischen eine ganze Reihe von Studien vorgelegt, namentlich über das von Weleda hergestellte Präparat „Iscador“. Nun ließe sich darüber streiten, ob die Mistel eine „anthroposophische“ Heilpflanze ist, denn schließlich wird sie seit Jahrtausenden in den verschiedensten Kulturen für medizinische Zwecke verwandt. Aber es waren unzweifelhaft Anthroposophen, die sie in die „moderne“ Medizin, vor allem in die Krebstherapie, eingeführt haben und seit nunmehr fast 40 Jahren mit großer Gründlichkeit erforschen. Mistelpräparate, da sind sich inzwischen selbst eingefleischte Schulmediziner weitgehend einig, stärken die körpereigenen Abwehrkräfte. Ein naheliegender Gedanke also, diesen „Immunmodulator“ auch in der Aids-Therapie zu erproben.
Dies zählt zu den Schwerpunkten von Gorters Arbeit in San Francisco, wo der aus Holland stammende Mediziner seit 1983 tätig ist. In Deutschland gehörte er einem zunächst locker organisierten Kreis von Kollegen an, der sich die Verbesserung der klinischen Forschung im Bereich der anthroposophischen Medizin zum Ziel setzte und im Mai 1994 die Gesellschaft für onkologische [krebsmedizinische; d. Red.] und immunologische Forschung e.V. gründete. Deren Satzungsziel, nämlich die Gründung eines Instituts, wurde schon im Juli desselben Jahres in die Tat umgesetzt.
Es ist ein sehr kleines Institut mit nur einer Handvoll hauptamtlichen Mitarbeitern, aber das macht seinem Leiter offenbar nichts aus. Schließlich kann er in San Francisco auf einen großen Apparat zurückgreifen, und worauf es ihm vor allem ankommt, ist der Kontakt zu Medizinern überall in der Welt, von Krakau bis Johannesburg – und zu den Patienten. „Community-Based-Research“, die Forschung in den Praxen niedergelassener Ärzte, gehört zu den wichtigsten Zielen des Instituts.
Die Praktiker vor Ort sammelten zum Beispiel schon bald nach Einführung neuartiger Kombinationen verschiedener Chemotherapeutika für HIV-Infizierte Erfahrungen mit den teilweise schweren, für rund ein Viertel der Patienten sogar unerträglichen Nebenwirkungen. Hier kann „Viscum Album“, die Mistel also, Abhilfe schaffen, die „Kombi-Therapie“ erleichtern und manchmal sogar ganz ersetzen. Zumindest bei einigen Patienten führte nämlich eine ausschließlich mit „Iscador“ durchgeführte Behandlung zu einer deutlichen Reduzierung der Virusbelastung; mitunter sanken die Werte über längere Zeit – bis zu 18 Monate – unter die Nachweisgrenze. Es gibt noch eine Reihe von weiteren Methoden der anthroposophischen Medizin, die sich als ausgezeichnete Ergänzung oder auch als Ersatz herkömmlicher Behandlungsmethoden anbieten. Schwierig ist es nur, die entsprechenden Zulassungen der Behörden zu bekommen.
Ein Paradebeispiel ist Hanf: Mit Cannabis-Präparaten läßt sich – unter anderem – sehr gut der von Chemotherapie-Patienten oft beklagten Appetitlosigkeit begegnen. Ein entsprechender Versuch in den USA verlief sehr vielversprechend. Vor allem traten keinerlei Nebenwirkungen auf, wenn man einmal von zwei Probanden absieht, die das Experiment wegen permanenter Rauschgefühle nach einigen Tagen abbrachen – allerdings gehörten sie zu einer Kontrollgruppe, der lediglich Placebos verabreicht wurden.
Einen ähnlichen Versuch möchte Robert Gorter auch in Deutschland durchführen, doch die hiesigen Behörden tun sich weitaus schwerer mit den entsprechenden Genehmigungen als die in Amerika zuständige Food and Drug Administration (FDA). Ohne ausführliche Studien aber gibt es keine Chance zur Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz und erst recht keine Möglichkeit, den weitverbreiteten Vorbehalten gegen jegliche Therapieform zu begegnen, deren Wirksamkeit „nur“ aufgrund von Erfahrungen und nicht durch wissenschaftliche Studien belegt ist.
Noch härter als die von ihr präferierten Medikamente treffen solche Ressentiments die anderen Elemente anthroposophischer Medizin, wie Heileurythmie oder Farbentherapie. Allerdings, so Robert Gorter, zeichnen sich vor allem jüngere Ärzte durch eine zunehmend offene Haltung aus: „Die fragen nur, ob es wirkt.“
Solchen Pragmatismus beobachten die Mitglieder von Regenbogen auch bei den anderen Berliner Aids-Initiativen. Sicher sind Biographiearbeit oder Öldispersionsbäder nicht jedermanns Sache, aber, so Holger Bahr, „mir sind keine negativen Vorurteile begegnet – jedenfalls nicht als Blockade“. Vielleicht hat sich ja zumindest hier der Gedanke durchgesetzt, daß sich ein jeder so helfen soll, wie er es für richtig hält: Wie bei vielen vergleichbaren Gruppen gehörten nämlich auch beim Regenbogen HIV-Positive zu den Initiatoren, weitere kamen später hinzu. Seit der Gründung 1989 sind fünf von ihnen gestorben. Heute, das immerhin hat die Medizin erreicht, stirbt man nicht mehr so schnell. Die Kombi-Therapie, so lassen jedenfalls die bisherigen Erfahrungen hoffen, hilft in den meisten Fällen, über einen langen Zeitraum die Virusbelastung zu begrenzen. Die behandelnden Ärzte und vor allem diejenigen Therapeuten, die sich mit den seelischen Nöten der Infizierten auseinandersetzen, bemerken deshalb oft eine veränderte Einstellung ihrer Patienten. Christopher Coote, der bei Regenbogen eine Eurythmie-Gruppe leitet, sieht das mit stark gemischten Gefühlen: „Früher war es ein ständiger Kampf darum, gesund zu bleiben; jetzt warten viele nur noch ab.“
Die aktive Auseinandersetzung mit der Krankheit ist den Regenbogen-Leuten aber ein zentrales Anliegen. „Krankheit als Weg zur Selbstwerdung“ heißt ein wöchentlicher Gesprächskreis – eine Formel des anthroposophischen Verständnisses von Krankheit, die Kritikern im Zusammenhang mit objektiv rettungslosen Aids-Patienten auf eine beinahe schon zynische Weise naiv erscheinen mag.
Doch es kommen immer wieder neue Leute in den Regenbogen- Laden, keineswegs nur Anthroposophen, und viele finden offenbar zumindest etwas von dem, wonach sie gesucht haben. Daß dabei die Enttäuschung über die Hilflosigkeit der Schulmedizin und die wirklichkeitsferne Hoffnung auf Rettung vor dem Unausweichlichen eine wichtige Rolle spielen, mag Christopher Coote nicht völlig ausschließen. Für die ihm bekannten stimmt das seiner Überzeugung nach aber nicht: „Bei Aids“, so seine Erfahrung, „erwartest du keine Wunder.“ Jochen Siemer
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