: Wurstfabrikantentochters Traum
Wie man schöne und schreckliche Gefühle überzeugend in den Tanz legt: Ein flammender Abend mit der spanischen Flamencotänzerin Laura Santiso Gil und der Zigeunerin Juana Fernández im Theater am Ufer ■ Von Jenni Zylka
Flamenco, sagen die Liebhaber, kann man nicht in Worten beschreiben. Man kann ihn nur erleben, aufnehmen und verstehen. Wenn doch darüber geschrieben wird, fallen Ausdrücke wie „Leidenschaft“, „Gefühl“, „Poesie“ und „Sinnlichkeit“. Es geht also ums Eingemachte, das genaue Gegenteil der Tugenden hierzulande, die angeblich eher Vernunft, Präzision und Ratio heißen.
Warum der Zigeunertanz trotzdem so geliebt wird in diesem kalten Land, warum kleine Wurstfabrikantentöchter und nordische Blondinen reihenweise Flamencokurse besuchen, während ihre Mütter mit glänzenden Augen von „echtem“ Flamenco schwärmen, den sie natürlich „da unten, im Süden“ gesehen haben, das hängt mit der Sehnsucht der Menschen, die ihre Gefühle vorsichtig einmal im Jahr rausholen, zusammen. Was man selbst nicht oft erlebt, das möchte man wenigstens durch einen Tanz oder ein Lied dargestellt wissen.
Laura Santiso Gil kann eine solche Stellvertreterin der eigenen Sehnsüchte und Interpretin der Gefühle sein. Die Spanierin tanzt seit zwanzig Jahren ihren „Essential Flamenco“, unterrichtet verschiedene Tänze und choreographiert ihre Shows. „Jeder Tanz hat einen bestimmten Charakter“, sagt sie, „und jeder tanzt es anders, so wie jeder Mensch anders ist. Flamenco ist wie Theater, man muß lernen, schöne und schreckliche Gefühle überzeugend in den Tanz zu legen.“ Laura hat ihre Leidenschaft entdeckt, als sie die Mutter der Flamencosängerin kennenlernte, mit der sie auftritt: Juana Fernández ist eine lebende Legende. Die Zigeunerin steht seit 45 Jahren auf der Bühne und singt charismatisch und mit typischem Timbre (man behauptet, gute Flamencosänger treffen Halbtöne, von denen andere nicht mal träumen) über „klassische“ Themen (Trauer, Wut, Glück), so wie Laura durch bestimmte Rhythmen, Schritte und Bewegungen von denselben Dingen erzählt.
Faszinierend, wie diese „Erzählweise“ funktioniert: Die Geschichten, vor Jahrhunderten von Zigeunerfamilien als einzige Möglichkeit des Ausdrucks ihrer Leiden und Freuden und als Kommunikationsmittel entwickelt, scheint man heutzutage noch genausogern hören zu wollen.
Im Flamenco und der Gitano- Szene, die ihn originär tanzt und singt, hat sich über die Zeit nicht viel verändert: traditionelle Frauen- und Männerrollen, Armut, Schwierigkeiten. Trotzdem berühren die Tänzer und Musiker ihre ungleichen Zuschauer, wenn sie über ihre Kinder, über die verflossene Liebe, über die Probleme mit der Familie singen. Während der Tanz ursprünglich nur durch Klatschen oder andere rhythmische Geräusche untermalt wurde, begleitet heute meist ein Gitarrist die Künstler. Bei Laura Santiso Gils spanischem Abend wird Antonio Jero der „Pasión Flamenca“ und der „Seele der südspanischen Zigeuner“ stilgerecht zur Seite stehen.
24. und 25. Oktober, 18 Uhr, Theater am Ufer, Tempelhofer Ufer 10
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen