„Alt, bevor wir jung waren“

Holocaust-Opfer, die als Kinder die Verfolgung erlebten, leiden noch heute an den Folgen der Schoah. In Berlin treffen sich derzeit diese „child survivors“. Jeder Dritte erhält keine Entschädigung

von PHILIPP GESSLER

Von seiner „moeder“, seiner holländischen Mutter, erzählt Professor Robert Krell, Kinderpsychiater im kanadischen Vancouver, gern: Etwa davon, wie das war, als er damals, Anfang der Vierzigerjahre, in Den Haag von ihr gebadet wurde. Da nahm sie immer viel Seife, damit das Badewasser ordentlich schäumte – und damit niemand, der zufällig in dieses christliche Haus der blonden Familie Munnik hineingeschneit kam, sehen konnte, dass der kleine, schwarzhaarige Robert beschnitten war. Denn dies hätte den Tod aller bedeuten können.

Von Kriegszeiten ist in diesen Tagen in Berlin die Rede, von Jahren der Verfolgung, von Mut und Traumata: Seit Donnerstag und noch bis Sonntag haben sich in der Europäischen Akademie im Grunewald etwa 30 so genannte „child survivors“ versammelt, um sich gegenseitig ihre Geschichte zu erzählen. „Child survivors“ sind Überlebende des Holocaust, die in den Jahren, da Hitler das ganze europäische Judentum zu vernichten trachtete, Kinder waren. Nun sind sie wie Robert Krell 60 Jahre alt oder älter – und tragen noch immer schwer an ihrem Schicksal, suchen Halt in Gesprächen miteinander, begreifen sich als Verwundete, die endlich über ihre Geschichte reden können.

Die Organisation „Esra“, die Treffen für Schoah-Überlebende und deren Nachkommen organisiert, hat zu der Zusammenkunft geladen – gekommen sind ältere Herrschaften meist jüdischen Glaubens, die nicht von ihrer Kindheit loskommen. Man duzt sich, umarmt sich, weint ein wenig. Es herrscht der zarte Ton einer Therapiesitzung, hier trifft sich eine Selbsthilfegruppe.

Warum ist das nötig? Immerhin ist die Zeit der Verfolgung mehr als 55 Jahre vorbei, sind seitdem fast zwei Generationen vergangen. Und schließlich waren doch die „child survivors“ nicht älter als sechzehn Jahre, als die Nazis mit ihrem Morden Schluss machen mussten: Auf der Tagung sind gestandene Persönlichkeiten wie Professor Krell zu finden, der gerade mal fünf Jahre war, als die Verfolgung endete. Seitdem hatte er ein ziemlich erfolgreiches Leben gehabt, mit beachtlicher Karriere, einem großen Freundeskreis und einer glücklichen Familie, wie er berichtet. Warum will diese Zeit des Terrors nicht vergehen?

„Wir waren alt, bevor wir jung waren“, erklärt Alexandra Rossberg, die die Esra-Treffen organisiert, das Phänomen. Und Krell, der 1983 in Los Angeles das erste Treffen der „child survivors“ organisierte, meint: Auch wenn manche wie er aus der Zeit der Verfolgung nur noch über Erinnerungsbruchstücke von Angst, Verlust oder bloß einer Gebärde der Mutter verfügten, seien die Seelen der „child survivors“ noch heute verwundet.

Denn gerade in den ersten Jahren eines Kindes brauche es die Erfahrung der Sicherheit und Liebe. Die „child survivors“ erlebten dagegen meist nur Unsicherheit, Angst und Hass – mit weitreichenden Folgen, wie Krell erklärt: Als er sich selbst vor wenigen Jahren einer eher routinemäßigen Untersuchung durch den Therapeuten einer niederländischen Wiedergutmachungsorganisation unterzog, warf ihn schon die erste Frage nach seiner Kindheitsgeschichte völlig aus dem Ruder. Der damals 56-Jährige weinte zwei Stunden lang. Und noch heute, so erzählt Krell, könne er es nur rational loben, dass ihn seine Mutter damals verließ, um ihn zu retten. Emotional habe er ihr dieses Verlassenwerden bis heute nicht verziehen. Dabei hatte er Glück: Krell sah seine Eltern wieder. Zwei Drittel der „child survivors“ sind Vollwaisen.

Doch die Überlebenden wollen nicht nur zurückschauen, wollen sich nicht ihrem Schmerz ergeben. Die verfolgten Kinder, die nur überleben konnten, weil sie sich versteckten, ihre Identität verleugneten und sich unsichtbar zu machen suchten, sind nun Erwachsene, die sich überwinden müssen, um Anerkennung zu verlangen: Einer Untersuchung von Krell zufolge haben fast ein Viertel der „child survivors“ noch nicht einmal einen Antrag auf Wiedergutmachung gestellt. Nur gut jeder zehnte erhält eine Rente als Verfolgter des Naziregimes.

Etwa jeder dritte „child survivor“ wird laut der Studie sogar mit seinem Antrag abgelehnt – weil die Behörden dafür Hürden aufstellen wie etwa das Überleben von mindestens sechs Monaten in einem Konzentrationslager, berichtet Krell. Und fügt noch eine Information hinzu: Die Überlebenszeit von Kindern in Auschwitz betrug in der Regel nicht mehr als drei Tage.