Dabeisein ist beinahe alles

■ Die Pariser Filmgruppe Molokino zeigt diese Woche in Hamburg ihr expanded cinema

Abends genau dort Kunst machen, wo man mittags Milchkaffee trinkt – das ist doch hübsch, dachten sich vier Pariser Cineasten und fingen an, im Café Moloko (russ.: Milch) erste eigene Super-8-Experimente zu projizieren. Die Filmgruppe Molokino war gegründet. Seit den frühen 90ern arbeiten Cécile Bortoletti, Agathe Gris, Hélèna Villovitch und David TV zusammen – getreu der Idee, dass nicht nur das produzierte Material, sondern ebenso seine wechselnde technische Wiedergabe, seine Aufführungssituationen und sein Publikum das Gesamtwerk Film bilden. Kino wird zu Performancekunst, in der jedes Ereignis ein Original bleibt.

Die Idee ist nicht neu. Schon die Fluxus-Akteure und die Independent Cinema-Bewegungen in den 60ern erkoren das Happening zum bestimmenden Thema ihrer Arbeiten. Yoko Ono, die ein einziges Streichholz entzündet, Ken Jacobs, der die immergleichen Filmschleifen übereinanderprojiziert, die John Cage-Schüler, die einen Steinway auseinandernehmen – all das wurde betrieben mit dem avantgardistischen Anspruch, der heute nicht mehr einzulösen ist. Dass die Molokinisten ihr künstlerisches Konzept expanded cinema nennen und ihr neues Programm anthology – in Anlehnung an Jonas Mekas' Anthology Film Archives – ist denn auch geschichtsbewusster Hofknicks vor einer eindrucksvollen Tradition.

Was diese Woche an zwei Abenden im Lichtmeß und im Metropolis zu erleben sein wird, bleibt, ganz im Geiste dieser Tradition, im Einzelnen nicht vorhersehbar. Den großen Rahmen aber bildet die Vision eines Anti-Fernsehens. Wo das TV mit immer noch ermüdenderen Schablonen auf eine ermüdete Erwartung reagiert, möchte Molokino diesen Kreislauf durch unvermutet private Einblicke durchbrechen. Möchte antippen, wie es wohl aussehen könnte, speisten wir uns alle in eigene, kleine Sender ein. „I'm my own radio“ hat Frau Hagen mal gesungen. „Die Bilder, die das Fernsehen so bringt, sie haben viel mit Konsum zu tun. Ich möchte berühren. Und wenn mich etwas berührt, kann ich damit auch andere berühren“ sagt David TV.

Molokino nimmt solche Sätze beinahe buchstäblich. Dann kann das Kino durchaus sehr intim werden. Etwa, wenn eine der Künstlerinnen ihr Unterwäschesortiment durchprobiert, sich dabei filmt und die Aufnahmen dann wieder auf sich selbst projiziert, auf das weiße Kleid, in dem sie die Bühne betritt. Oder wenn hingebungsvoll das Laken gestreichelt wird, auf das die Bilder einer Schönen gerichtet werden. Oder wenn die Aufführung eines Liebesakts kaschiert werden soll durch die vor der Leinwand umhereilende Darstellerin. „Ne regardez pas“ wird sie uns zum Schein zurufen.

Bei soviel Nabelschau rettet Charme den guten Ton. Hinter dem die Medienkritik eher leise anklingt. Was ist auf den „bespielten“ Flächen zu sehen? Ein Körper? Sein Abbild? Das Bild, das wir uns von ihm machen? Und sind unsere Augen eine Art Projektor, der seinen eigenen Film auf die Welt wirft?

Natürlich geben die Molokinis-ten darauf keine Antwort. Ihr Spiel kommt einer animierten Collage nahe. Filmsequenzen flackern auf rotierenden Regenschirmen, Lolitapop klingt vom Band oder wird gleich selbst intoniert, die geliebte Kinderorgel darf losquäken und: die Bar im Metropolis hält ausnahmsweise auch zu später Stunde noch einen Milchkaffee bereit.

Urs Richter

Freitag, 21 Uhr, Lichtmeß + Sonnabend, 21.15 Uhr, Metropolis