: Heute ist wieder gestern
Schluss mit dem Gegenwartswahn: Tim Staffel metzelt Goethe, Kerhoff schultert Kleist. Mit der Reihe HIStory/HERstory möchte das Theater am Halleschen Ufer zurückfinden zu den klassischen Texten
von ESTHER SLEVOGT
Im Programmheft des Theaters am Halleschen Ufer erfährt man, wo der Feind steht. Nicht etwa irgendwo draußen im Leben, sondern mitten in der Theaterlandschaft. Denn dort grassiert ein einschüchternder Gegenwartswahn. Mit so schlimmen Folgen wie dem „Abschildern oberflächlicher Probleme anhand völlig abstrus überzeichneter Figuren“, der Ausstellung einer bloßen „Gegenwärtigkeit des Bühnengeschehens im Kontext leicht angegrauter Zitate“ und „so genanntem Poptheater“.
Dagegen muss natürlich etwas unternommen werden. Also wird am Halleschen Ufer jetzt eine kleine Inszenierungsreihe veranstaltet, in der klassische Theatertexte gegen den herrschenden Trend gesetzt werden sollen: „HIStory/HERstory“. Das Kölner Trash-Theater wird Tim Staffels „Werther in New York“ spielen, die Lose Combo wird sich in „still“ mit Ovids „Methamorphosen“ befassen. Und um einen anderen Klassiker aufzufrischen, versetzt die Berliner Kerhoff-Produktion in „Ach – Nach Kleist“ die Amazonenfürstin Penthesilea an den Küchentisch und mitten in die Gegenwart: „Verflucht das Herz, das sich nicht mäßigen kann.“
Dabei ist es um diese Penthesilea (Katja Hensel) herum bisher ziemlich gemäßigt zugegangen. Die Party ist nicht besonders besucht. Kein Alkohol, bloß Wasser wird getrunken, das man aus Aquamaten zapfen kann. Die Männer essen Bananen. Und dann wirft sich ein junger Mann (Beat Marti) bäuchlings immer wieder auf die Bühne, rutscht ein paar Meter und grinst ins Publikum. Manchmal sagt er auch einige Sätze, die bei Kleist zu Achill gehören. Manchmal fällt Penthesilea danach in Ohnmacht und sagt leise: „Ach!“ Mehr Leidenschaft ist nicht.
Früher, als Kleist sein blutrünstiges Stück schrieb, war das anders. Da kämpfte das Amazonenheer gegen die griechischen Belagerer von Troja, Penthesilea liebte Achill in rasender Leidenschaft, bis zum Tod. Von all dem ist in Kerhoffs Kleist-Collage bloß das „Ach“ geblieben. Trotzdem werden sie gesprochen, weil sie so schön sind und kein bisschen angegraut: die alten Kleist-Texte, in denen sich zwei Liebende buchstäblich zerfleischen. Wo Schwerter in Hälse getrieben werden und Frauenzähne sich in Männerbrüste schlagen.
Doch die Männer hier auf dieser Bühne würden keine Frau mehr in den Wahnsinn treiben. Sie sitzen nebeneinander auf dem Sofa und halten brav eine Rose. Dann tanzen sie, und auch das wirkt kaum erotisierend. Ein Fernseher zeigt kitschige Pferdefilme, weil bei Kleist ja alle zu Pferd in die Schlacht und ins Verderben ziehen. Irgendwann sitzt Penthesilea einsam im Gorillakostüm auf einer Bank. Das ist in seiner Symbolik schön übersichtlich, aber etwas unbefriedigend. Man vermisst ein Spannungsfeld, in dem sich das Verhältnis der heutigen Figuren zu den klassischen Texten klärt.
Stattdessen sagt die Frau, die manchmal Sätze der Amazonenfürstin Prothoe spricht (Theresa Berlage), irgendwann: „Ich habe die Griechen gefickt.“ Dann zählt sie sie alle auf: Agamemnon, Odysseus – das bekannte Personal. Und danach geht alles weiter. Wie vorher.
„Ach – Nach Kleist“, bis 4. 2.; „Werther in New York“, 8.–11. 2.; „still“, 15. bis 18. 2.; jeweils 20 Uhr, Theater Am Halleschen Ufer, Hallesches Ufer 32
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