: BlühendeOrchideen
Treibhaus statt Menschenpark: Peter Sloterdijk verwandelt sich in einen besessenen Aufklärer
von FRITZ VON KLINGGRÄFF
30,3 Grad Celsius zeigte die Quecksilbersäule im gut beheizten großen Hörsaal der Weimarer Bauhaus-Universität, als Peter Sloterdijk seine Manuskripte auf dem Vortragspult zurechtrückte, sich über den Schnurrbart strich und zur vierteiligen Vorlesungsreihe am Nietzsche-Kolleg der Stiftung Weimarer Klassik ansetzte. Es ging in der Gastvorlesung im thüringischen Monat Januar um nichts Geringeres als das „Wesen des Menschen“. Und in vielfacher Ausführung schwitzte der zuhörende Mensch auf Bänken, Treppenstufen und Papierkörben – Sloterdijk schwitzte mit. Seiner Rede tat dies keinen Abbruch; übrigens auch nicht der artigen Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Schwitzt doch der Mensch gewissermaßen wesensgemäß, wenn ihm dabei im gleichen Atemzug von der Geburt des Homo sapiens im „Treibhaus“ berichtet wird.
Womit Peter Sloterdijk beim Thema war. Anderthalb Jahre nach seiner berüchtigten Elmauer Rede über die „Regeln für den Menschenpark“ und die Gnade der optionalen Geburt demonstrierte er von Anbeginn: In der Klassikerstadt sollte ein neues Kapitel anthropologischen Nachdenkens geschrieben werden. Mit Goethes zweitem Faust-Buch und einer revidierten Metaphorik wurde dabei vor allem deutlich: Der Philosoph aus Karlsruhe hat nach der harten Kritik begonnen, an seinen Thesen zum Ende des literarischen Humanismus zu arbeiten.
In seiner Weimarer Menschheitsgeschichte wurde aus dem platonischen „Menschenpark“ das „Treibhaus“ des Urmenschen: seine Herde und Schonung, sein Milieu und sein „externer Uterus“. Das Heideggersche Raunen der späten Neunziger hat Peter Sloterdijk nun durch das Vokabular der biologischen Anthropologie domestiziert. Und auch seine Elmauer Rede von den „Anthropotechniken“ mündete im milden Weimarer Klima unter der Ägide des eloquenten Gastgeberpaares Lorenz Engell/Josef Vogl von der Bauhaus-Uni in der Prophetie einer sanfteren „Homeotechnik“.
Dem sozialdarwinistischen Zungenschlag der vergangenen Jahre nämlich wurde damit quasi das Organ abgeschnitten. Keine Rede mehr von menschlichen „Kampfplätzen“ und pränataler Selektion, keine Forderungen mehr nach der Entscheidung im Ausnahmezustand – im Ausnahmezustand sieht Sloterdijk heute nur noch das Rind und anderes armseliges Nutztier (wie in der Woche vom 26. Januar), und auch der Darwinismus wurde von ihm ausdrücklich in den Bereich des Wilden verlegt.
Die Konsequenz ist verblüffend – und in ihrer Zuspitzung von nicht geringer Überzeugungskraft: Der Mensch ist von Natur aus ein Décadent. „Die Menschen“, fasst Peter Sloterdijk diese Erkenntnis am Ende seines zweiwöchigen Vorlesungszyklus zusammen, „sind gescheiterte Tiere. Und so lange die Gentechniker das nicht verstanden haben, haben wir als gute Freunde auch guten Grund, ihnen in den Arm zu fallen. Denn gegen jede naive Optimierungsidee zeigt die anthropologische Erkenntnis, dass der Mensch geradezu ein Anpassungsverweigerer ist.“ Die Menschen seien nun einmal eher Orchideen als Kampfaffen, und bestenfalls unter dieser Perspektive müsse die Gentechnik eingreifen: „Treibhausgeschöpfe sind nicht in erster Linie in Anpassung an einen Umweltdruck zu verstehen, sondern sie sind zu verstehen durch das Aufblühen im geschützten Raum.“
Der Mensch als Orchidee – nicht zuletzt angesichts der massigen Gestalt des Philosophen war dies eine überraschende Erkenntnis. Sloterdijk schreibt sich damit in das ehrwürdige anthropologische Bild vom Menschen als Mängelwesen ein. Mit unverhohlener Freude an den ausgebreiteten Lektüreerfahrungen berichtete er von der Frühgeburtlichkeit des Menschen und seiner Aufzucht im kulturellen Brutkasten, von seiner Verkindlichung, von menschlicher Face-to-face-Sexualität und von dem menschlichen Gesicht in seiner fötalen Unreife: „Jedes Gesicht ist eine unterbrochene Schnauzenbildung.“
Das mögen keine ganz neuen paläontologischen Erkenntnisse sein, und Sloterdijk sieht sich hier denn auch in einer ausdrücklich vornazistischen Erkenntnistradition der Zwanzigerjahre. Frappierend ist ihre Verbindung mit der Heideggerschen Existentialontologie, mit menschlichen Rückkoppelungen zwischen Luxus und Vorsorge, Ekstase und Verlorenheit.
Sloterdijk weigert sich damit nämlich nachdrücklich, seine philosophische Anthropologie in Spielarten der Kompensationstheorie einmünden zu lassen: Prothesen, Institutionen und Korporationen gehörten nicht zu seiner Menschheitsgeschichte. Im Gegenteil: „Unser Scheitern muss durch die moderne Biotechnologie auf höherer Ebene fortgesetzt werden“, so die Botschaft an seine alten „Freunde“ der optionalen Geburt.
Der Mensch lebt wesentlich als Décadent. Darauf zielten denn auch seine Anmerkungen zu einer prophetischen Anthropologie, die den Abschluss der Weimarer Vorlesungen bildeten. In seiner Entdeckungsreise durch die Menschheitsforschung gelangen ihm dabei historische Schnitte, wie wir sie sonst nur aus dem Genre der Sciencefiction kennen: Der sanfte Schnitt vom geworfenen Schlagstock zum Raumschiff (Kubrick) zumindest wäre kaum gewaltiger als Sloterdijks Sprung vom „externen Uterus“ frühester Kulturen zum klassischen Retorten-Homunculus nach Goethe: „Natürlichem genügt das Weltall kaum, / Was künstlich ist, verlangt geschlossnen Raum.“
In Weimar zeigte sich Peter Sloterdijk als besessener Aufklärer. Sein Ruf nach menschlicher „Autoplastizität“ war dabei nicht zuletzt ein Aufruf zu selbst-bewussten Biotechnologien: „Bis hin zum Klonen bleibt in den Laboren der Gentechniker die schöpferisch gedachte Natur das heimliche Subjekt. Da müssen wir gegensteuern.“ Seine philosophische Anthropologie aber zielte weniger auf den Homunculus als auf die intelligente Maschine: auf „die selbst geschaffene Differenz zwischen den eigenen Artifizien und der Intelligenz dieser Artifizien selbst“.
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