: Endlich: Die Queen im Minirock
■ Beim 3:1 über Wolfsburg ist Spielsystem ohne Libero auch beim FC St. Pauli angekommen
„Wenn ich mit Manndeckung spielen lasse, dann habe ich elf Esel auf dem Platz“, sagte Fußball-Visionär Ernst Happel einst. Visionen, die nach Jahrzehnten im Jahr 2002 auch am Millerntor angekommen sind. Zwar sind Esel weiterhin als Rackerer unter St. Pauli-Coach Dietmar Demuth erwünscht, doch an sich sind diese Tiere auf dem Fußballplatz längst überholt.
So titelte das Fußballmagazin Hattrick in seiner letzten Ausgabe Ende 1999: „Der Libero ist tot.“ Die klassische Abwehrformation mit zwei Manndeckern und eben einem Libero wurde nach der verkorksten Fußball-WM 1998 endlich auch hierzulande in Frage gestellt. Denn feste Zuordnungen im Abwehrbereich sind längst passé. Jupp Heynckes erklärte schon 1999: „Wer noch immer einen letzten Mann aufbietet, dem fehlt ein wichtiger Mann fürs Mittelfeld.“
Übernehmen von Defensivaufgaben aller auf dem Platz agierenden Spieler und das Herausarbeiten von Überzahlsituationen in Ballnähe waren von da an die taktischen Basisregeln, die nur von Abwehrspielern mit großem fußballerischen Potenzial ausgefüllt werden konnten, wie Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld den Trend richtig deutete. Zwei Jahre verspätet, in der Winterpause 2001/2002, verzichtet nun auch der kicker erstmals auf die Position des Liberos bei seiner Spieler-Rangliste.
Wahrscheinlich war dies weniger der Grund für Dietmar Demuth, sein System endlich den längst modernen Grundzügen anzupassen, sondern eher der Griff nach dem letzten rettenden Strohhalm zum Verbleib in der Bundesliga. Mit Zlatan Bajramovic, Jochen Kientz und Holger Stanislawski wurden die Aufgaben im zentralen Abwehrbereich auf sechs Schultern verteilt, während Moudachirou Amadou und Cory Gibbs die Außenbahnen verteidigten und sich häufig in das Offensivspiel einschalteten. Eine Formation, die in der ersten halben Stunde des Spiels gehörig ins Trudeln geriet. Nachdem sich Amadou, der stets weit in die gegnerische Hälfe vorrückte, wiederholt auf der rechten Abwehrseite überlaufen ließ kam es zu einer Ecke, die mittelbar zum 0:1-Rückstand führte. Gibbs wurde außerhalb des Spielfelds behandelt, der grippegeschwächte Christian Rahn ließ Tomislav Maric bis an die Grundlinie ziehen, und Jochen Kientz vollendete die Reihe der defensiven Missgeschicke mit einem Eigentor zum Rückstand. „Wenn du so ein Risiko mit einer offensiveren Aufstellung eingehst, hat der Gegner natürlich Räume“, entschuldigte Kapitän Holger Stanislawski.
Diese ersten Minuten der taktischen Revolution am Millerntor dürften bei den St. Pauli-Fans zu ähnlich skeptischen Bemerkungen geführt haben, wie beim britischen Schriftsteller Pete Davies, dem 1990 beim Anblick der neuen englischen Abwehrformation einfiel: „Es war, als trüge die Queen einen Minirock.“
Vielleicht war es dieses Bild, das Dietmar Demuth seinen zaghaften Profis in der Halbzeitpause verbal entgegenschmetterte, um auf mangelnde Muli-Eigenschaften hinzuweisen. Plötzlich wurden die Zweikämpfe angenommen, und die Wolfsburger Überlegenheit in der ersten Halbzeit war auf einmal weg. Die zehn Minuten zwischen dem 1:1 durch Thomas Meggle (51.) nach einer Flanke von Cory Gibbs und der gelb-roten Karte für Karhan (59.) raubten Wolfsburg den letzten Mut. Der viel kritisierte und sprintschwache Marcao (“Wie soll der auch sprinten können, wenn der die ganze Zeit Langstre-cken im Trainingslager abreißen musste“, ein Fan) lieferte eine Vorlage, die selbst der zuvor unglücklich agierende Marcel Rath nicht mehr vergeben konnte (2:1) und hackentrickste Bajramovic so vor die Füße, das auch er sein zum Ende hin gutes Spiel erfolgreich abschließen konnte (3:1). So erfolgreich, dass Dietmar Demuth über kleine Fehler lieber gar nicht sprechen wollte. „Wenn man drei Punkte holt, gibt es nichts zu meckern“, schmetterte der Coach erleichtert.
Oke Göttlich
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