: Nicht den Metzger
■ Idylle im Zarenreich und die alte Frage: Wer mit Wem? „Anatevka“ in Bremerhaven tendiert zum Puppenhaften
Anatevka ist der Name einer kleinen jüdischen Gemeinde im alten Russland. „Fiddler on the roof“, so der Originaltitel des Musicals, ging seit der Broadway-Premiere 1964 um die Welt, und ein einziger Song des Komponisten Jerry Bock wurde zu einem großen Evergreens: „If I were a rich man“ singt der Milchmann Tevje, denn die Armut, mit der ihn Gott geschlagen habe, sei zwar keine Schande, aber auch keine besondere Ehre. Jetzt hat das Stadttheater Bremerhaven den Musicalklassiker wieder ausgegraben, und obwohl Dirk Böhling als Regisseur alles tut, um der Geschichte Leben einzuhauchen, wirken Story und Musik seltsam verblasst.
Die Geschichte erzählt von den strengen familiären Traditionen osteuropäischer Juden und deren Gefährdung im Zarenreich kurz vor der Revolution von 1905. Der Blick auf eine untergehende Welt ist nostalgisch und die heftige Konfrontation zwischen Eltern und Kindern bekommt etwas anrührend Niedliches. Tevje (Klaus Damm) und seine Frau Golde (Christel Leuner) entscheiden, wen die Töchter heiraten. Aber Zeitel, die Älteste (Katarzyna Kuncio), weigert sich, den doppelt so alten Metzger (Günter Pirow) zu nehmen, sie liebt den mittellosen Schneider Mottel (Georg Thauern). Die zweite Tochter (Iris Wemme) verlobt sich ohne elterlichen Segen mit einem anarchistischen Studenten (Martin Kemner) und die dritte (Daniela Stuckstette) ist so unverfroren, nicht mit einem Glaubensgenossen, sondern mit einem Russen (Tomasz Kwiatkowski) anzubändeln.
Jerry Bocks Musik zur bitter-süßen Idylle ist eine Mischung aus sentimentalem Broadway-Schmelz und Folklore. Sie klingt durchweg frisch in den spritzigen Chor- und Tanzszenen die vom klein besetzten Orchester mit angemessenem Temperament entfaltet werden. Aber „Anatevka“ scheint immer dann durchzuhängen, wenn die langen Sprechpartien kommen: Die Dialoge klingen für heutige Ohren allzu brav und bieder. Der fehlende Biss macht aus den Szenen streckenweise ein lähmendes Getümel, auch deshalb, weil viele Ensemblemitglieder des Musiktheaters spielerisch überfordert sind.
Regisseur Böhling hat sie nicht im Griff, aber er kann sich um so mehr verlassen auf das hinreißende Elternpaar. Christel Leuner, die für die Gesangspartien den richtigen rauchigen Ton trifft, spielt Golde mit zupackender Herzlichkeit als Seelenverwandte von Brechts Mutter Courage. Der Bariton Klaus Damm verkörpert Tevje als liebenswerten Teddybären, der in Zwiesprache mit Gott immer wieder sein gefährdetes Weltbild zurechtrücken muss. Als Sänger nimmt er sich diskret zurück und betont den liedhaften Charakter seines „rich man“-Songs. Dieses Paar gibt der Inszenierung eine Kraft, die den fast dreistündigen Abend zusammenhält.
Böhling verzichtet zu Recht auf spektakuläre bühnentechnische Tricks – bis auf eine eingenebelte Traumsequenz mit leichenblasser Großmutter im aufspringenden Sarg –, seine Inszenierung besticht durch ihre Schlichtheit. Die Bühne (Petra Mollerus) besteht aus einem Landschaftbild im Hintergrund, das Stimmungs- durch Lichtwechsel anzeigt. Am eindringlichsten sind allerdings die Szenen ohne jegliche Kulissen.
Immer wieder lässt Böhling Hütten, Straßenlaternen, Kneipenmobiliar ein- und abräumen: Soviel Naturalismus unterstreicht die Tümelei des Musicals, anstatt sie aufzubrechen. Vielleicht setzt der Regisseur auf die Poesie einer bis ins Puppenhafte verniedlichten Welt, aber auch darin geht er nicht weit genug. Am intensivsten sind die Szenen, wo ein einsamer Fiedler (hervorragend: Wassilij Rusznak) immer wieder ins Bild tritt, um ein paar Takte auf seinem Instrument zu spielen. In diesen Momenten erreicht „Anatevka“ den leisen, stechenden Schmerz, der in der gut gemeinten Sentimentalität der Musik und der Dialoge unrettbar zu verblassen droht.
Hans Happel
Anatevka, Musical von Jerry Bock, Stadttheater Bremerhaven, Großes Haus. Vorstellungen am 30. Januar, 1., 2., 8. und 14. Februar
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