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Stippvisite bei einem Hartnäckigen

von GABRIELE GOETTLE

Klaus Dörner, emer. Univ.-Prof., Dr. med., Dr. phil., ehem. ärztl. Leiter d. Psychiatrischen Landeskrankenhauses Gütersloh. 1954–1960 Studium d. Medizin a. d. Univ. Freiburg (u. i. Kiel, Heidelberg, Tübingen, Hamburg, Paris). Mediz. Staatsexamen u. Dr. med. 1960 i. Hamburg. Zweitstudium Soziologie u. Geschichte i. Berlin. 1969 Dr. phil. („Bürger und Irre“), teilw. parall. Tätigkeit a. d. Psychiatr. Univ. Klin. Hamburg (63–65) u. Nebentätigk. b. Gesundheitsamt Hamburg Altona (68–72). 1971 Habilitation a. d. Univ. Hamburg (Sammelhabilitation) i. Fach Sozialpsychiatrie. 1971–1979 Lehre daselbst. 1972 Anerkenn. z. Facharzt u. Ernn. z. Oberarzt a. d. Psychiatrischen Univ. Klinik Hamburg. 1972 starke Verstörung über den plötzlichen Tod des Vaters (v. Beruf Arzt). 1976 ebenso über den Tod des verehrten Lehrers, d. Psychiaters Bürger-Prinz. 1976 zweiter geschäftsf. Direktor. 1978 Ernennung z. Professor a. d. Univ. Hamburg. Bis 1979 insgesamt acht Jahre lang als Psychiater Arbeit in einem (beruflich gemischten)Tagesklinik-Team (Psychiatr. Universitätskl. Hamburg). Von 1980–1996 Ärztl. Leiter d. Westfälischen Landesklinik f. Psychiatrie. Psychosomatik u. Neurologie i. Gütersloh. 1992 Berufung a. d. Lehrstuhl f. Psychiatrie a. d. Universität Witten/Herdecke (emer. 1996). Mitglied zahlr. Fachgesellsch. u. Vereinigungen. Mitbegründer „Deutsche Gesellschaft f. Soziale Psychiatrie“ (DGSP e. V.) 1970, „Deutsche Hospitzhilfe e. V.“ 1988, „Deutsch-Polnische Gesellschaft f. Seelische Gesundheit e. V.“ 1989. Dörner baute a. d. Univ. Hamburg die „Medizinische Soziologie“ mit auf (im Gefolge der n euen Approbation wurden die Fächer: Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie u. Psychosomatik eingeführt). Auszeichnungen: 1990 Kulturpreis d. Präses d. Evangelischen Kirche i. Rheinland. 1995 Salomon-Neumann-Medaille. 1999 Bundesverdienstkreuz (a. d. „Reha-Forum f. Psychisch Kranke“, überreicht v. Gesundheitsministerin A. Fischer, f. Verdienste f. d. Psychiatrie-Reform). Verfasser zahlreich. wissensch. Beiträge u. Aufsätze. Autor u. a. von: „Bürger u. Irre“, Ffm. 1969; „Irren ist menschlich“ (zus. m. Ursula Plog), Loccum 1978; „Tödliches Mitleid“, Gütersloh 1988. Dörner hat sich energisch f. d. Übersetzung u. Herausg. d. Akten d. Nürnberger Ärzteprozesses i. deutscher Sprache engagiert. Von 350.000 schriftlich um Geldspenden gebetenen Ärzten waren 8.000 bereit, die Dokumentation d. Verbrechen ihrer Vorgänger durch eine Spende mitzufinanzieren. 2001 erschien die Mikrofiche-Edition (Preis 2.455 Euro). Momentan ist er dabei, ein Institut f. „Mensch, Wissenschaft u. Ethik“ m. Sitz i. Berlin zu gründen. Klaus Dörner wurde (nach eigenen Angaben) 14 Tage nach der „Machtergreifung“ Hitlers als „Kind des Vertrauens zum Führer“ gezeugt u. a. 22. 11. 1933 i. Duisburg geboren. Er ist verheiratet u. hat zwei Kinder aus erster und drei aus zweiter Ehe.

„LA LIBERTA E TERAPEUTICA“ war in den 60er-Jahren die Parole fortschrittlicher italienischer Psychiater (wie Basaglia u. a.),mit der sie die Öffnung der Irrenanstalten und den Versuch einer Enthospitalisierung ihrer Patienten einleiteten. Einer der prominentesten deutschen Psychiatriereformer – einst der „Basaglia Ost-Westfalens“ genannt – ist Klaus Dörner, nimmermüder Vorkämpfer der Sozialpsychiatrie und der Abschaffung aller Anstalten u. Heime. Psychiatrie war für ihn von Anfang an Gesellschaftswissenschaft. Sein berühmtestes Buch, der Psychiatriebestseller „Bürger und Irre“, ist eine Entstehungs- und Sozialgeschichte der Psychiatrie, als Institution, moderne Wissenschaft und medizinische Disziplin (in England, Frankreich und Deutschland), und zwar vor dem jeweils spezifischen wirtschaftlichen und sozialen Hintergrund.

Die postulierte Absicht der Untersuchung war eine schonungslose Selbstaufklärung der Psychiatrie. Das Buch und vor allem die öffentlichen Reaktionen darauf haben das Selbstverständnis der alteingesessenen Disziplin und ihrer Standesvertreter ins Wanken gebracht und den gesellschaftlichen Umgang mit dem Irresein, mit Ausgrenzung und Anstaltswesen erheblich mit verändert. Dörner kritisierte die Psychiatrie als reine „Insassen-Wissenschaft“, die an irgendwelchen Lebensmöglichkeiten ihrer Patienten in anderen sozialen Zusammenhängen als denen innerhalb von Anstalten nicht im Geringsten interessiert war, die aus einer fiktiven Idealnormalität „objektive“ Kriterien für Abnormalität und psychische Krankheiten ableitet, für Absonderung und Verwahrung. Diesen Zustand zu ändern ist schwerer als vielleicht erwartet. Seit mehr als 30 Jahren verteidigen die Beteiligten ihre Pfründen und nehmen in Kauf, dass hunderttausende ihrer Freiheitsrechte teilweise lebenslänglich beraubt werden, ohne, so Dörner, fachlichen Grund, „ohne Sinn, ohne Recht, ohne Moral“. Er gründete 1970 mit Gleichgesinnten die „Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie“, mit der sich u. a. Druck ausüben ließ auf die Psychiatrie-Enquete der damaligen Bundesregierung.

Später bewies er als ärztlicher Leiter eines großen psychiatrischen Landeskrankenhauses 16 Jahre lang, dass es möglich ist, sämtliche Langzeitpatienten zu entlassen und ihnen ein Leben außerhalb der Anstalt zu ermöglichen. Mit der Enthospitalisierung der „Verrückten“ und ihrer Rückkehr in die Gesellschaft und Öffentlichkeit verbindet Dörner auch noch die Hoffnung, dass dadurch ihre reibungslose Liquidierung, im Fall der Fälle, entsprechend erschwert würde. Er mutmaßt, dass womöglich in gar nicht so ferner Zukunft wieder Aussonderungsmaßnahmen ins Auge gefasst werden könnten, „schon wegen der Marktgesetze“, angesichts eines unbezahlbaren Sozialsystems und einer stetig ansteigenden Zahl Nichtverwendbarer und Nichtverwendungsfähiger. Erste Anzeichen dafür sah er in der Sterbehilfediskussion, die er vehement verurteilt. Dörner war einer der Ersten in Deutschland, der sich als Psychiater mit dem Thema Euthanasie-Verbrechen und Schuldzusammenhang nicht nur beschäftigte, sondern auch eine Entschädigung und Rehabilitierung aller noch lebenden Opfer der NS-Psychiatrie forderte.

Sein Buch „Tödliches Mitleid“ zeigt Jahre später die kontinuierliche Weiterverfolgung dieses Themas und Dörners Fähigkeit zur „Selbstzerfleischung“. Er weiß von sich, und sagt es unmissverständlich, wie leicht es hätte geschehen können, dass auch aus ihm ein Nazi-Arzt und williger Vollstrecker hätte werden können. Dörner studiert den von Primo Levi beschriebenen „Panwitz-Blick“. Den verdinglichenden Blick des Bevollmächtigten auf ein ihm ausgeliefertes Subjekt. Es ist ein sachlich musternder, aussondernder Blick, kühl, ungerührt, unberührbar, der seit dem Beginn der Industrialisierung – in verkleideter Form – eingeübt und angewandt wurde als Verwertungs- und Ausrottungsblick des Bürgers gegen die „sozial Schwächeren und psychisch Kranken“. Dörner findet beim Selbstversuch diesen „Panwitz-Blick“ als Möglichkeit auch in der eigenen Person, gibt zu, ihn durchaus zu beherrschen, ihn parat zu haben, ihn sogar logisch und ethisch nachvollziehen zu können im Spektrum seiner Fähigkeiten. Das ist ein ziemlich unerhörtes Geständnis, zumal für einen Arzt. Dörner erwähnt ab und zu seine starke NS-Prägung und erzählt, wie er, als sowohl dicker als auch rothaariger Bub, gehänselt wurde und diese Schmach durch besonderen Schneid, beim Schießen beispielsweise, kompensieren konnte. Möglichst genaue Selbstwahrnehmung hat er auch in der psychiatrischen Arbeit als unabdingbare Methode gefordert und seine Mitarbeiter stets aufgefordert, auch in der eigenen Person die psychopathischen und endogenen Störungen zu erforschen. Nur über ein Selbst-Verständnis sei Verständigung möglich.

„Die Person“, sagt Dörner (also ihre Beschaffenheit als Helfer), „ist das einzige Mittel in der Psychiatrie, das zählt.“ Zur natürlich auch von ihm praktizierten Behandlung mit Neuroleptika erklärte er: „Wir geben sie dem Patienten immer auch zu unserer Selbstbehandlung, um ihn überhaupt ertragen zu können.“ Kritische Betroffene einer solchen Behandlung – ob sie nun auf sanftem oder unsanftem Zwang beruht – sehen darin eine Fesselungs- und Knebelungstechnik in alter Tradition und im Psychiater nur ein Vollzugsorgan, das berufsmäßig soziale Kontrolle ausübt, indem es störende Elemente entstörenden Maßnahmen unterzieht.

Aber Dörner hat die Widersprüche, in denen jeder sich verfangen muss, der ein Amtsinhaber ist, immer zugleich auch thematisiert, analysiert und benutzt. Er hat es sich und anderen nicht leicht gemacht. Die Anzahl seiner Wochenstunden war legendär und ebenso die Tatsache, dass er während seiner 17-jährigen Amtszeit nicht ein einziges Mal Urlaub nahm, nicht einen einzigen Tag wegen Krankheit fehlte. Pünktlich erschien er jeden Tag zur Morgenkonferenz. Er meidet jeden besonderen Aufwand in Bezug auf Kleidung, Nahrung, Komfort und Formalitäten, isst gewohnheitsmäßig nur einmal täglich und zwar am Abend. Er behauptet, „dass wir mit einer einzigen ethischen Norm auskommen“, und formuliert seinen kategorischen Imperativ so: „… sie besagt, dass wir unseren höchsten Aufwand an Aufmerksamkeit, Engagement, Zeit und Einsatz unserer Ressourcen, im Zweifel zunächst bei den jeweils Schwierigsten, Hoffnungslosesten, Aussichtslosesten, Ältesten und unerträglichsten Patienten einzusetzen haben.“ 1968 war Dörner Marxist, heute schätzt er den französischen Philosophen Levinas, dessen zentrales Thema, AUSBRUCH AUS DER TOTALITÄT, auch Dörner zeitlebens beschäftigt.

Klaus Dörner wohnt in Hamburg, im Stadtteil Eppendorf, ganz in der Nähe seiner ersten ärztlichen Wirkungsstätte, des Universitätskrankenhauses. Die Gegend ist städtisch, aber nicht mehr so laut, die Straße schmal, mit meist schmalen, aneinander hängenden bürgerlichen Mietshäusern aus den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Zwischen Bürgersteig und Haus fristen winzige Vorgärten ein meist kümmerliches Dasein. In der ersten Etage werden wir vom Hausherrn mit sehr distanzierter Freundlichkeit begrüßt und in ein kleines Zimmerchen gebeten. Dort stürzt sich eine freudig erregte junge Retriever-Hündin auf uns, möchte spielen, wird aber vom Herrchen mit sanfter Entschiedenheit in den Flur hinauskomplimentiert.

Am Ende des Flures befindet sich die Küche, in der ein kräftiger achtzehnjähriger Graupapagei in seinem Käfig sitzt und ab und zu erschütternd melodische Schreie ausstößt. Sein Gefieder ist wohl geordnet. Ansonsten fällt auf, dass die schönen Messing-Türklinken alle nach oben zeigen, damit sie nicht unbefugt geöffnet werden. Nicht etwa von der Hündin, nein, die 16 Jahre alte graugetigerte Katze, so erfahren wir, öffnet gern jede Tür und verschwindet. Auch die Katze wird aus dem kleinen Zimmerchen hinausgeschickt und entfernt sich ärgerlich. Die Einrichtung wirkt in Zeiten, wo man auf wohl inszenierte Heime großen Wert legt, angenehm und wie von gestern. Unter dem dreiteiligen Fenster steht ein Schreibtisch, darauf eine alte mechanische Schreibmaschine, Pfeifentabaksdosen, es riecht aber nicht nach Rauch, seltsamerweise. Der Teppichboden ist blaugrau, samtig. Bücherregale aus hellem Holz beherbergen Mappen, Schachteln, Ordner, es gibt ein Bild vom Känguru, einen Bücherschrank mit Glastüren. Die eigentliche Bücherwand ist nebenan im Arbeitszimmer. Wir nehmen auf etwas Platz, das niedrig ist und mit Kord bezogen. Der Hausherr sitzt uns schräg gegenüber auf einem normal hohen Stuhl. Wir blicken zu ihm auf. Er trägt Kordhosen und wirkt unnahbar. Überhaupt umweht ihn etwas Mönchisches; ein Hauch von Selbstzucht und Anfechtung. Vor uns auf dem Tischchen steht ein interessanter Kerzenleuchter, gemacht aus einer Fahrradhinterachse, als Standfuß dient der Zahnradkranz. Sonst ist das Tischchen leer. Die Gastlichkeit wurde vergessen oder nicht für notwendig befunden. Das ist ungewohnt. Einige Zeit später, als wir uns gerade daran gewöhnt hatten, brachte Herr Dörner aber doch noch eine Flasche Limonade für uns.

Wir fragen ihn nach seinen Anfängen in den 60er-Jahren, und er erzählt von seiner Zeit in Berlin, von der Arbeit in Hamburg, von den Erfahrungen der Tagesklinik, dem Team und von der Antipsychiatriebewegung in Italien. „Ich bin ja damals mit italienischen Menschen, Psychiatern, mit Basaglia und all diesen Leuten so was wie befreundet gewesen … teilweise bis heute noch, aber das waren dort völlig andere, nicht übertragbare Verhältnisse. Und der italienische Weg war ja dann auch so, dass sie zwar sehr verdienstvoll die Anstalten in Frage gestellt haben und dort, wo es geklappt hat, auch deren Strukturen durch ambulante Hilfe ersetzen konnten. Aber ziemlich gut gelungen ist das eigentlich nur in Triest, Peruggia … witzigerweise nur in mittelgroßen Städten. Nicht auf dem platten Lande, nicht in den Großstädten. Viele der Familien waren überfordert von den chronisch Kranken.

Ich hab mir damals schon gedacht, kann man’s nicht auch anders machen? Das war also auch einer der Gründe, weshalb ich in ein Landeskrankenhaus wollte, wo dann auch die chronisch Kranken, also die Allerletzten in der Hierarchie, systematisch zu finden sind, weil es eine Pflichtversorgung gibt für die Region. Dort findet man all die, die seit 10, 20, 30, 40, 50 Jahren, falls sie die Nazizeit überlebt hatten, ohne Chance waren. Von 1980 bis 1996 war ich dann in Gütersloh der leitende Arzt, und wir haben mit den Allerletzten angefangen. Jedes Landeskrankenhaus hat ja so eine Omega-Station, die sind die allerletzten Heuler, die also nichts als klauen, kratzen, beißen, spucken, Sachen zerdeppern, mit dem Kopf gegen die Wand schlagen und die ganze Zeit Menschen angreifen und was alles noch – und das Tag und Nacht. Und da haben wir angefangen, mal die Bezeichnungen anzuschauen: geistig behindert, verhaltensgestört, persönlichkeitsgestört usf. und haben beschlossen, sie anders zu nennen, so, dass auch etwas Positives drin vorkommt. Es gab dann einen Wettbewerb zur Erfindung von Namen, und da wurde gesagt: Es sind die größten Individualisten, oder es sind Menschen, mit einem besonders originellen Verhalten oder mit einem besonders herausfordernden Verhalten – in dem Sinne, dass sie mich aus mir herausfordern. Und indem sie das tun, schenken sie mir etwas … Ja? Oder was hatten wir noch gesagt … das sind SYSTEMSPRENGER.

Witzigerweise hat sich der Name am meisten durchgesetzt. Die Gesellschaft hat sich ja so daran gewöhnt, alles zum System zu erklären … Niklas Luhmann mit seiner Systemtheorie und solche Leute … Und damit man in den Systemen nicht erstickt, braucht es die Systemsprenger; einer von denen reicht, um jedes x-beliebige System zu sprengen. So, und innerhalb von 15 jahren ist es uns gelungen – und das war das erste Mal in Deutschland oder sogar in der Welt –, alle, wirklich alle chronisch psychisch Kranken einer Region, von immerhin einer Million Einwohnern, das sind 436 Stück, aus der Anstalt in eigene Wohnungen zu entlassen. Fast alle mit normaler ambulanter Betreuung, nur eine Minderheit von 15 Prozent bekam wegen ihrer Schwierigkeiten eine Betreuung rund um die Uhr. Wir konnten so empirisch nachweisen, dass kein Mensch wegen einer psychischen Erkrankung, egal wie schwer sie ist, dauerhaft in einer Institution leben muss. Und auch für die geistig Behinderten braucht man keine dauerhaften Institutionen. Für akute Krisen, da braucht man Kliniken. Alle andern können in eigenen Wohnungen leben, allein, zu zweit, in Gruppen, nach Bedarf betreut. Eins allerdings ist unbedingt notwendig, dass sie tagsüber was sozial Sinnvolles zu tun kriegen, dass sie was haben, was sie als ihre Arbeit, als ihren Betrieb empfinden. Deshalb haben wir da zehn Zuverdienst…, Teilzeitfirmen gegründet, wo die Leute, die ja das Bedürfnis haben, sich durch Arbeit sozial sinnvoll zu machen und sich so zu erleben, stundenweise kommen und gehen können.

Diese Zuverdienstfirmen sind für uns die wichtigste Erfindung. Leute, die jahrzehntelang in der Anstalt waren, haben erfahrungsgemäß Probleme mit der Arbeit, es ist nicht mal so, dass sie nicht arbeiten können, sie wollen’s oft einfach nicht und brauchen deshalb ein ganz besonderes Angebot. Wir nannten es ganz bewusst „Industrie-Café“, wo man hingehen kann, Kaffee trinken, mit andern vielleicht Karten spielen oder, wenn man Lust hat, über die Leute, die dort in Blickweite arbeiten, herziehen wie blöd die sind. Und der Witz ist der, das müssen sie dürfen. Die Leute, die da arbeiten, dürfen in keiner Weise eingreifen. Bei den meisten ist es so, nach ein paar Wochen, Monaten oder auch drei Jahren – das dürfen sie auch –, da juckt es sie dann in den Fingern, und sie wollen sich doch ein paar Mark Kleingeld verdienen. Man darf es so unregelmäßig tun, wie man will. Es war natürlich nicht leicht für die Leute die das organisiert haben, damals wurde das ja noch nicht bezahlt, und wir haben Gelder zweckentfremdet, haben jede Arbeit genommen, die kam, meist einfache Industriemontage. Man muss gucken, dass man etwa zwei Drittel finanziert kriegt, und ein Drittel kann man dann aus dem Erlös selbst finanzieren. Auf diese Weise haben wir also alle chronisch Kranken einer ganzen Region, egal ob es nun die Psychotischen waren, die Schizophrenen, chronisch Suchtkranken, Gerontopsychiatrischen oder sonstige Fälle, rausgekriegt aus der Anstalt. Gut, das Krankenhaus war auf diese Weise ja nicht völlig aufgelöst, es war auf einen Teilbereich geschrumpft … also Aufnahmestation für Akutkranke … Und das ist eigentlich der Weg. Der nächste Schritt müsste dann sein, dass man so eine Anstalt dann völlig aufgibt. Die Engländer haben drei Viertel ihrer Landeskrankenhäuser … ihrer Großkrankenhäuser ja aufgegeben …“

Wir wenden ein, dass der Grund dafür vielleicht der Thatcherismus und die radikalen Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem hätte sein können, doch Herr Dörner schüttelt den Kopf: „Das hat damit nichts zu tun. Also man muss aufpassen, denn es kann leicht passieren, dass man solche Kommunalisierungen dann deshalb ablehnt, weil man sagt, das seien reine Sparmaßnahmen. Und auf der anderen Seite sagen auch die Betreiber großer Institutionen gern, da sind wir dagegen, das jetzt zu zerschlagen und statt dessen billige ambulante Betreuung, damit wird doch nur die Sparpsychose des Neokapitalismus geschürt … und damit verteidigen sie nur ihre Pfründen. Das ist das Problem. Es darf uns aber nicht abhalten von der Schaffung des Systems von comunity care – um diesen englischen Begriff zu verwenden –, was uns in Gütersloh ja auch soweit gelungen ist, und zwar so, dass die Bevölkerung auch mitspielt, was ja mit die schwierigste Aufgabe ist. In so einer mittelgroßen Stadt wie Gütersloh, mit einer organischen Umgebung, 100.000 Einwohnern, funktioniert es am besten. Aber es war natürlich ein Problem, als plötzlich eine 3- bis 4-mal höhere Dichte an merkwürdigen chronisch Kranken da war wie bisher. Und da haben wir uns also eine Menge einfallen lassen wie Volkshochschulkurse zum Thema ‚Wie gehen Nachbarn mit geistig Behinderten um‘, dann Aktivitäten mit Schülern, es gab Vereinbarungen mit den Grundschulen und Gymnasien, dass jeder Schüler einmal in seiner Karriere an einem Projekt mitarbeiten muss, ein Praktikum macht, das theooretisch vorbereitet und dann guckt, wie er am besten mit seiner Angst vor dem Fremden umgehen kann. Ihn verführen zum Interesse, zur Neugier zum Verständnis. Wir haben Benefizveranstaltungen gemacht, so dass alle irgendwie einbezogen wurden, immer größere Teile der Bürgerschaft. Und wir haben in Gütersloh alle zwei Jahre einen SOZIAL-OSKAR vergeben, den bekam jeweils immer ein normaler Unternehmer des freien Marktes, der sich für psychisch Kranke oder geistig Behinderte besonders engagiert hatte. Eine hochkarätige Jury, mit der Handwerkskammerpräsidentin und anderen Honoratioren verlieh den Preis von 10.000 Mark … keine große Sache, aber … das ist inzwischen gesellschaftlich eine hochwichtige Veranstaltung mit Tradition und findet im Landratsplenarsaal statt.

Es ist jetzt so, dass die Sozialkontakte der chronisch Kranken zu über 80 Prozent aus Kontakten zu „normalen“ Bürgern bestehen. Nur noch ein kleiner Rest der Kontakte sind solche zu professionellen Helfern, während in ihrem Anstaltsleben die professionellen Kontakte und die zu den Mitpatienten in vielen Fällen die einzigen waren, die seit langem bestanden. Und wir können deshalb auch froh sein, dass es so gut gegangen ist, dass wir nachverfolgen können, wie die Leute über 10, 15 Jahre im Großen und Ganzen stabil geblieben sind. Über die Hälfte der Leute musste nie wieder rein … das muss man sich mal vorstellen. Menschen, die waren vorher 20, 30 Jahre drin – und da muss man sich ja eingestehen – ohne jeden fachlichen Grund ohne Notwendigkeit und damit ohne jede Berechtigung, wurden ihnen 20, 30 Jahre ihrer Freiheit geklaut.“

Herr Dörner zieht die Hosenbeine etwas hoch über dem Knie und legt dabei schwarze Socken frei mit Mozart-Schriftzug. Er schaut einen Moment schweigend zum Fenster und fährt fort: „Als ich vor fünf Jahren aufhörte, bin ich mit meiner Frau wieder nach Hamburg zurückgekehrt, am 6. 12. 96, das war zwischen uns so abgesprochen, als wir damals nach Gütersloh gingen, dass sie sich fügt, aber nur unter der Bedingung, dass sie später bestimmt, wohin es dann wieder von Gütersloh weggeht. Und sie hat sich für Hamburg entschieden. Dann sind wir erst mal für drei Monate nach Australien gedüst, haben Urlaub gemacht. Danach habe ich erst mal zwei Jahre lang geguckt, worauf willst du dich noch konzentrieren, hab dieses Buch geschrieben. „Der gute Arzt“, weil ich über meinen eigenen Beruf auch mal was schreiben wollte – und dieses Buch ist bewusst nicht für Psychiater geschrieben, sondern für den Typ des Allgemeinarztes, des Hausarztes. Und da hat sich bei mir herausgestellt, dass ich das, was ich in Gütersloh gelernt habe, verallgemeinern kann, um Menschen, die Heime betreiben dazu zu bringen, Menschehn, die in Heimen sitzen, dort aber gar nicht sitzen müssten, so zu fördern, dass die ausziehen können für immer. Habe erst mal zwei Jahre in Vorträgen behauptet, dass alle Heimbetreiber und Heimträger Geißelnehmer sind. Merkwürdigerweise hat das aber trotzdem dazu geführt, dass man sich im Laufe der Zeit dann doch mal Gedanken gemacht hat, sich auch zusammengesetzt hat. Aber dann ist da immer die Frage, wie kriegen wir das hin, ohne Arbeitsplätze kaputt zu machen. Und diese Frage, die stellt man ja auch auf der Kostenträgerebene, also so ein Leiter einer Sozialhilfeabteilung will bei sich keine Abstriche machen. Wenn er nur noch die Hälfte der Gelder zu zahlen hätte, müsste er die Hälfte seiner Mitarbeiter rausschmeißen, er hätte nicht mehr ein Budget von, ich weiß nicht, 10 Milliarden, sondern nur noch 5 Milliarden, das schwächt sein Renommee, wie steht er dann da … Also irrationale Dinge, Machtfaktoren, scheinen da eine größere Rolle zu spielen als ökonomische Vernunft. In Westfalen haben wir am Beispiel Gütersloh den Leuten vorgerechnet, ihr spart dadurch, dass diese 436 Menschen jetzt draußen leben, pro Jahr, allein an diesen 436 Menschen, 10 bis 15 Millionen Steuergelder. Aber das hat nicht im Geringsten interessiert. Es gibt keinerlei Willen, sparen zu wollen.

Aber so ein Heimbetreiber, bei dem liegen die Dinge noch mal anders, wenn der sein Betreuungssystem verändern will, dann rutscht der erst mal in den Bankrott rein, wenn ich also ein Heim mit 80 Betten habe und entlasse meine Patienten allmählich, ohne die Betten wieder aufzufüllen, dann kann ich Konkurs anmelden. Also habe ich, nach Vereinbarung mit dem Kostenträger, denen – das war in Bayern – vorgeschlagen, dass ein Heim, das in diese Richtung gehen will, zwischenzeitlich höhere Kostensätze bekommen kann, um das abfangen zu können, aber mit dem Ziel, das Heim in etwa zehn Jahren abzubauen. Kein einziger Heimträger hat sich darauf bezogen!“ Auf die Frage, in welcher Eigenschaft er da eigentlich auftrete, sagt er lachend: „Ich habe ein neues Berufsbild kreiert, das Berufsbild des HEIMAUFLÖSERS.“

Ernst setzt er hinzu: „Na ja, das ist zwar ganz nett, aber völlig wirkungslos. Das Heimsystem ist zu gut geschmiert und etabliert – und alle, Heimträger und Heimbetreiber, haben zu große Verlustängste. Wenn Sie beispielsweise das Diakonische Werk nehmen, die haben in jedem Kreis, in jedem Bundesland und auch noch auf Bundesebene natürlich, unglaublich große Verwaltungen, wo im Grunde genommen alle finanziert werden von den Pflegesätzen der diakonischen Einrichtungen. Fallen die weg, dann ist die ganze Pracht und Herrlichkeit auch weg! Um gegen all diese Widerstände was zu unternehmen, haben wir als jedenfalls letzten Akt eine Aufforderung an den Bundestag gerichtet, in der nächsten Legislaturperiode eine Heim-Enquete durchzuführen. Das bringt zwar nicht automatisch was, aber wenn ich mich an die Psychiatrie-Enquete erinnere, die hat unglaublich viel in Bewegung gebracht damals. Allerdings war ihr erster makabrer Erfolg, dass ein System von Heimen dadurch erst entstehen konnte, das heute so gut wie unangreifbar ist. Deshalb eben jetzt der Ruf nach dem Gesetzgeber. Denn immerhin lebt 1 Prozent der Bevölkerung in Heimen, das sind 800.000 Menschen, die Anspruch auf ihre Freiheit haben. Und deshalb muss die Deinstitutionalisierung mit gesetzlichen Maßnahmen begleitet werden, und das gilt sowohl für die Alten und Pflegebedürftigen wie für die psychisch Kranken, die geistig Behinderten und die körperlich Behinderten natürlich auch, das ist klar.

Und dies führt, sage ich jetzt mal, automatisch – ob das jetzt jemand will oder nicht – dazu, dass die normalen Durchschnittsbürger mehr einbezogen werden. Das wird ganz einfach passieren, und es ist unvermeidlich, dass sich auf diese Weise so ein Stück Bürgergesellschaft wieder herstellt. Bürgergesellschaft, das ist ja so ein Sonntagsredenwort, der Bundeskanzler nimmt es pausenlos in den Mund, weil es gut klingt. Sie herzustellen ist aber etwas sehr Schwieriges, und eins ist klar: Es lässt sich eine Bürgergesellschaft nicht denken in einer Gesellschaft, die über soziale Institutionen verfügt, in die man im Notfall schwierige Menschen wegschließen kann. Sie steht und fällt eigentlich nur damit, wie wir dazu kommen, dass der statistische Durchschnittsbürger einen Teil seiner Schultern da mit ins Spiel einbringt. Also dass sich die Gesamtlast auf alle Schultern, auf möglichst alle, gleichmäßig verteilt. Das ist die Theorie. Aber vorstellbar wäre ein Pflegemix, ein Betreuungsmix aus Angehörigen, Profis, Nachbarn, sonstigen Bürgern. Das klingt geradezu banal, wie sollte es auch anders ein. Und es wird Jahrzehnte dauern, bis das als Kultur selbstverständlich geworden sein wird für die Leute. Und jetzt werd ich etwas pathetisch: Mensch, ne Stunde in der Woche oder auch zwei oder drei, stehe ich meinem alzheimerkranken Nachbarn schräg gegenüber zur Verfügung, zusammen mit anderen. Das ist nicht nur eine Pflicht, sondern vielmehr noch ein gewisses Recht auf soziale Anteilnahme. Und ich reklamiere dieses Recht und fordere es ein. So! Noch vor 10 Jahren hätte ich gesagt, das ist sentimentaler Quatsch, aber nachdem, was wir schon an kleinen Schritten auf die Beine gestellt haben, halte ich das nicht mehr für sentimentalen Quatsch, sondern für erreichbar; allerdings muss man sich vielleicht 50 bis 100 Jahre Zeit nehmen … Aber wenn man sich erst mal vorgenommen hat, dieses Heimsystem anzutasten, will man wenigstens dafür sorgen, dass man noch sagen kann … man hat in den nächsten drei Jahren vielleicht 5 oder 15 Heimbewohner rausbekommen, sie haben ihre bürgerlichen Rechte … ihre Persönlichkeits- und Freiheitsrechte wieder erlangen können. So demütig muss man schon sein, dass man sagt, na ja, es ist gelungen …“