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Was ereignet sich in dem Zeitraum, bezogen auf die Ankunft von Leopold & Stephen in der Eccles Street Nummer 7 bis Leopold in den Schlaf fällt?

Leopold hat keinen Hausschlüssel dabei, deswegen wählt er den Weg durch den Garten, klettert über Mauer und Vorplatzzaun, wobei er fällt, sich aber aufrappelt und daraufhin das Haus durch das Souterrain betritt, die Waschküche durchmisst, in der Küche Gaslampe und Kerze anzündet, mit der Kerze über den Flur zur Haustür geht und Stephen einlässt. Alsdann stellt Leopold Wasser auf, wäscht sich die Hände und bereitet Stephen und sich zwei TeetasSENN mit Epp’s leicht löslichem Kakao. Die beiden hängen, während sie das Heißgetränk zu sich nehmen, verschiedenen Gedanken nach, unterhalten sich aber auch ein wenig, beispielsweise über einige gemeinsame Bekanntschaften wie die 1896 verstorbene Mrs. Riodan, die einst bei der Familie Dedalus gewohnt hatte und von Leopold Bloom bei anderer Gelegenheit im Rollstuhl herumgeschoben worden war. Sodann richten sie ihre Überlegungen auf die Themenfelder Religion und Wissenschaft, Philosophie, den Erfindungsreichtum ihrer Zeitgenossen, prominente Juden, ihre verbliebenen Kenntnisse des Altirischen und Althebräischen, woraufhin Leopold Stephen überredet, das antisemitische Lied von Harry Hughes vorzusingen, was erst einmal zu einer Konversationspause führt, die endet, als Leopold die verstorbene Mrs Sinico erwähnt, die Stephen aber nicht gekannt hat. Nachdem Bloom Stephen die zuvor geliehenen sieben Schilling zurückgibt, machen sie Zukunftspläne, darunter den, sich als Italienisch- bzw. als Gesangslehrer zu versuchen, verlassen dann die Küche, wobei sie einer Katze begegnen, und begeben sich in den Garten, wo sie gemeinsam pinkeln, während sie über sich einen über den Nachthimmel streifenden Stern beobachten. Nachdem sie abgeschüttelt haben, verabschiedet Leopold Stephen an der Gartentür und geht wieder ins Haus, steigt die Treppe hinauf, stößt sich den Kopf, zündet eine Räucherkerze an, dann fällt ihm die Unordnung im Bücherregal auf, was ihn nicht daran hindert, sich seiner Kleidung zu entledigen, was mit einer etwas grobschlächtigen Pediküre abschließt, wonach er einigen nächtlichen Tagträumen nachhängt, einige Schubladen durchkramt, und wiederum darüber nachdenkt, seine Familie zu verlassen, sich dann aber, weil er einsieht, sonst zu keinem Entschluss zu kommen, entscheidet, ins Bett zu gehen, wo er, nachdem er sich noch einmal den vergangenen Tag ins Gedächtnis gerufen hat, neben seiner Frau zu liegen kommt und die beiden sich noch ein bisschen unterhalten, bis Leopold der Schlaf übermannt.

Geht es noch knapper?

Aber sicher: Weil Leopold keinen Schlüssel dabei hat, muss er über den Garten ins Haus, um Stephen hereinbitten zu können. Die beiden trinken Kakao, pinkeln gemeinsam, dann verabschiedet sich Stephen. Leopold bleibt noch eine Weile auf, dann kriecht er zu seiner Frau Marion ins Bett.

Aha. Spielen in dem Kapitel außer Stephen Dedalus und Leopold Bloom noch andere Namen eine Rolle?

Ziemlich viele. Das Who is who in alphabetischer Reihenfolge lautet:

A

Apjohn, Percy (Kinderfreund)

Alexandra, Königin von England (1844–1925)

Allingham, William (irischstämmiger Langgedichter)

Aristoteles (Philosoph)

B

Ball, Sir Robert (königlich-irischer Astronom)

Barton, Dunbar Plunket (stellv. Kronanwalt)

Beaufoy, Philip (Lohnschreiber)

Bingham, G. Clifton (Songtexter)

Bloom, Ellen, geb. Higgins (Mutter)

Bloom, Marion, geborene Tweedy (Gattin)

Bloom, Millicent (Tochter)

Bloom, Rudolf (Blooms Vater)

Blum Pascha (evtl. ein Vetter)

Bode, Johann Elert (deutscher Astronom)

Boru, Brian, König von Irland (926–1014)

Bouverist, Nelly (Schauspielerin)

Boylan, Hugh E. (Freier, unglücklicher Pferdewetter)

Brady, Francis (Freier, Doktor)

Branscombe, Maud (prominentes Fotomodell)

Breen Josephine, geb. Powell (Exfreundin)

Burke, Andrew (Freier, Pisser)

Bushe, Seymour (Kronanwalt)

Pater Butt (Studiendekan, University College)

Byrne, David (Wirt)

C

Callan, Miss (Vorname unbekannt, Krankenschwester)

Callinan, Christopher (Freier, schmieriger Journalist)

Calpornus, der Sohn des Poitus (Diakon, Vater von St. Patrick)

Clifford, Martha (Brieffreundin)

Conmee, John (Jesuit, Joyce-Förderer)

Coelestin I. (Papst 422–432)

Cohen, Bella (Puffmutter)

Comerford, M. (Partyveranstalter)

Connery, W. und E. (Hoteliers)

Corrigan, Bernard (Trauergast)

Cox, Charles (Parlamentsabgeordneter)

Cuffe, Joseph (Freier, Vieh- und Getreidehändler)

Cullen, James (Herrenausstatter)

Cunningham, Martin (Sisyphos)

D

Damascenus, Johannes (griechischer Theologe)

D’Arcy, Bertell (Freier, Tenor)

Darwin, Charles (Evolutionstheoretiker)

Davitt, Michael (irischer Patriot)

Davy, J. und T. (Tee- und SpirituoSENNhändler)

Dedalus, Delia (Stephens Schwester)

Dedalus, Mary (Stephens Mutter)

Dedalus, Simon (Stephens Vater)

Dennehy, Francis (Apotheker)

Doktor Dick (Dichter)

Dillon, Matthew (Freier)

Dillon, Valentine Blake (Bürgermeister von Dublin, ✝ 1904)

Dowie, John Alexander (Schottischer Erweckungsprediger)

Dollard, Benjamin (Freier, Baß-Baritonne)

Doyle, Arthur Conan (Krimi-Autor)

Doyle, Luke (Freund der Blooms)

Doyle, Caroline (Freundin der Blooms)

E

Ellis, William (freikirchlicher Missionar)

Epps, James (Lebensmittelchemiker, Kakaohersteller)

F

Farsaigh, Fenius (biblischer Sprachenforscher)

Fitzpatrick, James (Täufer)

Fleming, Mrs (Blooms Haushaltshilfe)

Flower, Henry (Pseudonym)

Froedman, Francis (Drogerist)

Freytag, Gustav (Kulturhistoriker)

G

Galilei, Galileo (Forscher)

Galle, Johann Gottfried (Astronom)

Gallagher, Michael (Zimmermann)

Gilligan, Philip (Täufer)

Gladstone, William Ewart (Liberaler)

Goldberg, Owen (Schulfreund)

Goodwin, Prof. (Freier, Pianist)

Goulding, Christina (Stephens Großmutter)

Goulding, Richard (Stephens Großvater)

Guggenheim, Meyer (Financier, Philanthrop)

Gunn, Michael (Impresario)

H

Haynau, Julis Jakob (Conterrevolutionär)

Harris, John (Uhrenbauer)

Hart, Michael (Joyce-Freund)

Harty, Spencer (Bezirksinspektor der Wasserwerke)

Heber (biblischer Irland-Eroberer)

Hengler, Albert (Zirkusdirektor)

Hely, Wisdom (Freier, Schreibwarenhändler)

Heremon (biblischer Irland-Eroberer)

Herschel, William (Astronom)

Hicks, Cecil (Bühnenbildner)

Higgins, Fanny (Blooms Großmutter)

Higgins Julius (Blooms Großvater)

Hirsch, Maurice de (jüdischer Financier, Philanthrop)

Hozier, Henry Montague (Historiker)

Hooper, Alderman John (Freier, Stadtrat)

Hughes, Harry (Legendengestalt)

Hynes, Joe (Trauergast)

I

Isaacs, Rufus Daniel (jüdischer Jurist)

J

Jackson, George A. (Bühnenbildner)

James, Charles A. (Inhaber eines Wachsfigurenkabinetts)

Johnston, Gilmer (Täufer, Priester)

K

Kane, Matthew F. (Staatsanwalt)

Kepler, Johannes (Astronom)

Kernan, Thomas (Teehändler, Trauergast)

Keyes, Alexander J. (Lebensmittelhändler)

Kiernan, Bernard (Wirt)

Knaplock, Robert (Verleger)

L

Lambert, Ned (Trauergast)

Lalor, James Finton (irischer Radikaler)

Lassalle, Ferdinand (Sozialist, Duellant)

Lenehan (Freier, Sportjournalist)

Leary (irischer König, 5. Jh.)

Lemon, Graham (Bonbonhersteller)

Leverrier, Urbain Jean Joseph (Astronom)

Lyons, Frederick M. (Idiot von einem Pferdewetter)

M

MacArt, Cormac (irischer König, 3. Jh.)

MacDowell, Gerty (Nausikaa)

Mackey, Sir James W. (Oberbürgermeister, Florist)

Magrane, Daniel (Jugendfreund)

Maimonides, Moses (jüdischer Arzt und Philosoph, 1135–1204)

Malone, Charles (kath. Priester)

Marks, Ephraim (billiger Jakob)

Maria Theresia (Kaiserin von Österreich)

Marius, Simon (Astronom)

Marquis of Ripon, George Frederick Samuel Robertson (englischer Staatsmann)

Mastiansky, Julius (Freier, Lebensmittelhändler)

M’Carthy, Denis Florence (Gelehrter)

Mendoza, Daniel (jüdischer Box-Champion)

Mendelssohn Bartholdy, Felix (Komponist)

Mendelssohn, Moses (Philosoph)

Menton, John Henry (Freier, Anwalt)

Mesias, George (Blooms Schneider)

Bruder Michael (Mönch)

Mitchel, John (Revolutionär)

M’Intosh

Montefiore, Moses Chaim (Jüdischer Finanzier, Philanthrop)

Moisel, Philip (Auswanderer)

Molloy, James Lyman (Schlagerkomponist)

Monachus, Epiphanus (Heiliger)

Moses von Ägypten (biblische Gestalt)

Morgan, John Pierpont (Banker)

Morkan, Kate (Stephens Patin)

Morkan, Julia (Kates Schwester)

Morley, John (Irlandminister)

Mulligan, Malachi (Medizinstudent)

Mulvey, Harry (Leutnant)

Murray, John Fisher (Revolutionär)

N

Nannetti, Joseph P. (Stadtrat)

Noah (biblische Gestalt)

Noir, Jessie (Choreografin)

O

O’Brien, William (Romancier)

O’Brien, James Francis Xavier (Revolu-tionär)

O’Connor, James (Täufer)

O’ Connor, Joseph K. (Anwalt und Schriftsteller)

O’Dowd, Elizabeth (Hotelbesitzerin)

O’Hara, Frank (Einrichter)

O’Reilly Maggot (Freier)

Otto, Thomas (Dramaturg)

P

Palmer, Kate Bandman (Schauspielerin)

Pardies, Ignace Gaston (Mathematiker)

Parnell, James Stewart (ungekrönter irischer König)

Patrick, der Sohn des Calpornus (irischer Nationalheiliger)

Penrose (Freier, einst Nachbar der Blooms)

Piazzi, Guiseppe (Astronom)

Pile, Thomas (Oberbürgermeister)

Plumtree, George (Hersteller von Fleischkonserven)

Potitus (Priester, Vorfahr des Hl. Patrick)

Potter, Elsa (Freundin von Milly)

Power, Jack (Trauergast, Polizist)

Price, Henry (Porzellanhändler)

Purefoy, Mina (Schwangere)

R

Rice, Ignatius (Anwalt der Stadtverwaltung)

Riordan, Mrs (reiche Witwe)

Rockefeller, John D. (Ölmagnat)

Romanus, Lentulus (Vorgänger von Pontius Pilatus)

Rothschild, Meyer Amschel (Bankier)

S

Salmon, T. (College-Lehrer)

Sandow, Eugene (Ratgeber-Autor)

Shakespeare, William (Dramatiker)

Shelton, R. (Theaterproduzent)

Sebastian, Pater (Freier, Mönch)

Sindbad, der Seefahrer (Märchengestalt)

Sinico, Emily (Dublinerin)

Spinoza, Baruch (jüdischer Philosoph)

Sterling, Antoinette (Altistin)

Sweny, F. W. (Drogerist)

T

Tearle, Osmond (Shakespeare-Darsteller)

Turnbull, Cecil (Schulfreund)

Tweedy, Brian Cooper (Marions Vater)

Tallon, Daniel (Oberbürgermeister)

V

Victoria I. (Königin von England)

Virag, Leopold (Blooms Großvater)

Virag, Stephan (Blooms Großonkel)

W

Wade, Francis (Jugendfreund)

Whelan, Mrs and Miss (Kostümbildner)

Whittier, Greenleaf (amerikanischer Dichter)

Wren, P. A. (Auktionator)

Wyndham, Charles (Komiker)

Y

Der Herzog und die Herzogin von York (Adlige)

Wie ist das Kapitel aufgeteilt?

In 302 Fragen und entsprechende Antworten, aber das nicht allein. Daneben stehen 10 Aufforderungen. Und ein Punkt.

Nenne die Quersumme von 302!

Fünf.

Bleibt eine Frage unbeantwortet?

Nein. Allein Bloom findet auf eine eigene Frage keine Antwort.

Welche Frage ist das?

Die Frage nach M’Intosh.

M’Intosh wie Macintosh?

Oder auch Mackintosh.

Wer war M’Intosh?

Genau. Das ist die Frage, die sich Bloom stellt.

Und? Wer ist Macintosh?

Vielleicht ein Abkömmling des schottischen Clans der Macintosh. Obwohl: Auch der Computer, auf dem dieser Text entsteht, ist ein Macintosh. Und noch ein Drittes: Auf Gälisch heißt Mac an tois, was fast wie Macintosh klingt, „Sohn des Brotes“.

Aber das führt doch nicht weiter. Taucht im Ulysses denn weiter kein Mensch dieses Namens auf?

Doch, sogar mehrmals. Ob er allerdings auch so heißt, ist zu bezweifeln. Er bekommt in einem Zeitungsartikel diesen Namen, weil Joe Hynes, der Reporter, Leopold Bloom missversteht, der von einem Mann im braunen Macintosh erzählt. Hynes schreibt einfach den Namen M’Intosh in seinen Block.

Was ist ein Macintosh?

Ein Regenmantel, vergleichbar mit einem Südwester. Benannt ist er nach seinem Erfinder Charles Macintosh, der im 19. Jahrhundert ein Verfahren entwickelte, um Gummi auf Textilien aufzubringen.

Und weiter?

Der Mann im Macintosh taucht bei Paddy Dignams Beerdigung auf. Ein ziemlich langer Lulatsch, denn keiner kennt. Er ist der 13. Beerdigungsgast. 13 – eine Todeszahl für den abergläubischen Leopold Bloom. Von ihm ist auch die Rede, als der englische Vizekönig eine Ausfahrt in Dublin macht. Bei selbiger kreuzt ein Mann im braunen Macintosh, trockenes Brot kauend, rasch und ohne Schaden zu nehmen dessen Weg. Ein Mann im braunen Macintosh liebt auch eine Dame, die tot ist. Und dann spricht ein Mann im Macintosh auch ein paar Sätze. Er zeigt auf Leopold Bloom und bezichtigt ihn, der Brandstifter M’Intosh zu sein.

Wer war denn nun wieder dieser M’Intosh?

Ein Schotte namens John M’Intosh, der Schießpulver herstellte und ein geheimes Arsenal für den irischen Rebellen Robert Emmet bereit hielt. Als seine Schießpulverfabrik durch einen Unfall explodierte, wurde er verhaftet. Später führte er die Polizei zum Rebellenversteck und wurde danach vor seinem eigenen Haus hingerichtet.

Dann also kann das der Mann im Macintosh selbst nicht sein?

Genau, John M’Intosh ist ja bereits Geschichte. Aber der Name M’Intosh taucht dann, wie gesagt, noch einmal in Joe Hynes’ Artikel über die Dignam-Beerdigung auf. Und das bringt Bloom ins Grübeln.

Ein richtiges Rätsel also?

Ja. Das andere, das er sich gleichzeitig stellt – als ob er seine grauen Zellen ein wenig auf Trab bringen wollte – löst er dagegen sofort. Es ist auch sehr leicht: Wo war Moses, als die Kerze ausging?

Und die Antwort?

Im Dunkeln natürlich. Das andere Rätsel dagegen ist bis heute ungelöst. Und es hat einige Leute beschäftigt. John Lennon spricht davon in The Ballad of John and Yoko. In einer Strophe heißt es „The Man in the Mac said, ‚You’ve got to turn back‘ “. Und sogar Groucho Marx, der sich mit Peter Lorre über den Ulysses Briefe schrieb, versuchte sich daran.

Was? Groucho Marx und Peter Lorre?

Ja, tatsächlich, der schielende Chef der Marx-Brothers, der übrigens noch mehr Ähnlichkeiten mit James Joyce hatte. So ist überliefert, Groucho hätte Lorre auf die Frage nach dem geheimnisvollen Mann geschrieben: Macintosh ist Joyce selbst … ; er ist Theoklymenos … ; er ist Mr James Duffy aus der Dubliner-Erzählung „Ein betrüblicher Fall“, zurückgekehrt, um nach dem Grab von Mrs Sinico zu suchen; er ist Charles Stewart Parnell, zurückgekehrt von seinem eigenen Grab; er ist der herumgeisternde Jude; er ist Jesus auf dem Weg nach Emmaus oder jeder andere geheiligte Rückkehrer.

Das kann Groucho ja wohl nicht ernst gemeint haben?

Aber er hat doch die meisten Theorien zur Identität von M’Intosh wiedergegeben.

Es gibt noch mehr?

Unzählige. Im Angebot sind ferner James Clarence Mangan und Michael Collins.

Jetzt aber der Reihe nach, bitte.

Na gut. Zu Michael Collins, irischer Freiheitskämpfer, bekannt aus dem Hollywood-Film mit Liam Neeson und Julia Roberts. Collins war einer der führenden Köpfe des irischen Unabhängigkeitskampfes, angefangen vom Osteraufstand im Jahr 1919 bis 1923. Als er 1921 in London als irischer Gesandter den anglo-irischen Vertrag unterzeichnete, der zwar die Unabhängigkeit des größten Teils von Irland herstellte, aber unter Ausschluss von Nordirland, brachte er sich in den Gegensatz zu den radikalen irischen Nationalisten, die die Teilung der Insel nicht hinnehmen wollten. Im darauf folgenden irischen Bürgerkrieg amtierte er als Vorsitzender der Übergangsregierung und Oberbefehlshaber der irischen Streitkräfte, ehe er 1922 einem Attentat zum Opfer fiel.

Und warum soll gerade der M’Intosh sein?

Wenn man sich Fotos der Zeit von 1916 bis 1921 ansieht, die IRA-Leute zeigen, fällt auf, dass diese meistens Trenchcoats oder Macintosh-Mäntel anhaben, um nicht aufzufallen – wie unser M’Intosh. Und Michael Collins, damals der „meistgesuchte Mann Irlands“, war gleichermaßen dafür bekannt, dass er den englischen Sicherheitskräften immer wieder durchs Netz ging, während er in Zivilkleidern durch Dublin lief. Das zielt auf den Mann ab, der ohne Schaden zu nehmen der Karosse des Vizekönigs über den Weg lief.

Und das soll schon reichen, um M’Intosh als Michael Collins zu identifizieren?

Wenn man davon absieht, das Joyce eine Legende aus dem Jahr 1921 um fünfzehn Jahre vorverlegt haben muss, ja. Er scheint aber eine kleine Vorliebe für klandestine Gestalten zu haben. Stephen Dedalus trifft in der Bibliothek einmal auf einen zart gebauten Siamesen. Dabei soll es sich um Ho Chi Minh handeln, sagen einige. Und übrigens: Michael Collins taucht im Ulysses weiter nicht auf.

Das sind doch Fantasiegebilde à la Mathias Bröckers.

Was an der Theorie stört ist: Warum soll ausgerechnet Michael Collins auch noch an einem Brot kauen?

Gibt es denn dafür keine Theorie?

Doch. Aber sie verweist auf einen anderen Zeitgenossen von James Joyce: James Clarence Mangan, einen irischen Dichter, den Joyce sehr verehrte. Von Mangan ist bekannt, dass er ständig einen braunen Mantel trug. Er starb 1849 in Galsnevin, galt als ziemlich wortkarg und soll sich laut Zeitzeugen geistergleich durch die Straßen bewegt haben. Weil er ziemlich arm war, wurde er außerdem oft mit trockenem Brot in den Taschen angetroffen, heißt es. Und außerdem wird von ihm erzählt, er hätte einer seiner Studentinnen nachgehangen, die 1832 starb. Da gibt es schon einige Parallelen zu unserem Mann im braunen Macintosh. Er taucht das erste Mal auf dem Friedhof Glasnevin auf, spricht im ganzen Buch kaum ein Wort, knabbert an seinem Brot, und außerdem liebt er eine Frau, die tot ist.

Aber das tun ja nun nicht wenige?

Stimmt. Im Werk von James Joyce tut das aber besonders Mr Duffy in der Erzählung „Ein betrüblicher Fall“, ein einsamer Kassierer, der eine späte Liebe zu einer gewissen Mrs Sinico entwickelt, mit der er viel spazieren geht, sich aber seine Zuneigung nicht richtig eingestehen will, bis er durch einen Zeitungsartikel davon erfährt, dass sie von einem Zug überfahren wurde. Es stimmt doch nachdenklich, dass alle Hauptfiguren aus Dubliner auch im Ulysses wieder eine Rolle bekommen, außer eben Mr Duffy. Deswegen ist die Meinung ziemlich weit verbreitet, bei M’Intosh handele es sich um den trauernden Kassierer. Eine weiteres Indiz könnte sein, das der Clan der Macintoshs ursprünglich aus dem Hause Duff ist.

Na, da ist die Mangan-Theorie aber vielleicht noch ein wenig interessanter. Was ist mit Joyce selbst und Theoklymenos?

Natürlich könnte M’Intosh ein Alter Ego von Joyce sein, wofür sich beispielsweise auch Vladimir Nabokov stark einsetzte. Die Frage lautet aber dann: Was ist Stephen Dedalus? Und auch Theoklymenos – ein fremder Seher aus Pylos, der zum Ende von Homers Odyssee hin auftaucht – hilft zur Identifizierung M’Intoshs nicht wirklich weiter – nur den Leuten, die glauben, Joyce habe die antike Sage eins zu eins umgesetzt.

Was ist also das Fazit?

Zumindest bei dem Mann auf dem Friedhof und dem Mann auf der Straße dürfte es sich nicht um ein und dieselbe Person handeln. Ja, warum nicht. Bei M’Intosh handelt es sich nicht um einen Mann, sondern um mehrere Männer im braunen Mantel. Das war ja auch ein verbreitetes Kleidungsstück damals. Und dann kann sich jeder irgendwen aussuchen, der unter dem Gummi steckt: John oder Charles, Michael oder James. Oder einen ganz anderen. Ein multipler Protagonist. Noch Fragen?

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