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DER WERTEWANDEL IN DER ALTERSFRAGE WIRD NICHT KOMMENVerdächtiger Appell

Wer wissen will, was Doppelmoral heute ist, muss den Umgang mit der Altersfrage betrachten. Es erinnert daran, wie früher das Thema Sex behandelt wurde: Stets wird an Werte, an die Moral appelliert – und im Leben passiert etwas ganz anderes.

Auch gestern wieder rief die Bundesfamilienministerin dazu auf, ein „neues Bild des Alters“ zu schaffen: Ältere Menschen verfügten über große Ressourcen und Potenziale. Das ist gut gemeint, aber die Appelle an eine „Trendwende“ bringen vor allem ein Problem mit sich: Wenn immerzu an einen „Wertewandel“ appelliert wird, dann werden indirekt Ältere wieder als Problemfall abqualifiziert. Und genau das führt dazu, dass die Personalverantwortlichen in den Betrieben dann eben lieber doch Jüngere einstellen, sicher ist sicher. Mit Opfern will man eigentlich nichts zu tun haben.

Bedauerlich ist daher, dass die Familienministerin bei der Vorstellung des „Zweiten Alterssurveys“ nicht etwas visionärer war. Was wird denn passieren in einer Arbeitsgesellschaft, in der Ältere nicht mehr so früh ausscheiden können, wenn zum Beispiel in einigen Jahren die Altersteilzeit ausgelaufen ist? Wird der Anteil der Kleinunternehmer zunehmen, weil ältere Arbeitslose sonst keine Chance mehr haben? Und was machen Betriebe, die heute froh sind, keinen über 45 zu beschäftigen, wenn diese heute 45-Jährigen die 60 überschreiten, aber noch gar nicht ausscheiden können? Vielleicht stellen ganz schlaue Firmen künftig sogar lieber ausgewählte motivierte 60-Jährige ein, weil sie diese garantiert wenige Jahre später in Rente schicken und sich so immer wieder erneuern können, während die Jüngeren auf Jahrzehnte kleben bleiben.

Die wichtigste Frage: Wie wird sich eine alternde Erwerbsgesellschaft ausdifferenzieren, in der gewerbliche Arbeitnehmer früh verschlissen, Geistesarbeiter aber noch etwas länger produktiv sein können? Neue Erwerbsschicksale und soziale Ungleichheiten werden sich entwickeln. Die Politik täte gut daran, sich mit dieser Zukunft zu beschäftigen, anstatt einen Wertewandel zu beschwören, der so nie kommen wird. BARBARA DRIBBUSCH

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