Der Verlust der Utopie

■ Zum Anschlag auf die Synagoge in Istanbul

Bislang wurden meist Bombenkoffer abgestellt, Bombenautos geparkt. Diesmal, in Istanbul, wurden Menschen von Angesicht zu Angesicht erschossen: Rein in die Synagoge, die Tür versperrt und reingehalten in die Menge der Betenden, die man nie gesehen hat, hören, wie sie schreien in einer Sprache, die man nicht versteht, kein Erbarmen empfinden. Verzicht darauf, sich zu rechtfertigen - das erledigen andere, als käme es selbst auf das eigene Leben, das eigene Anliegen nicht mehr an. Die Attentate häufen sich in letzter Zeit, die Atempausen dazwischen werden kürzer. Auch die Oasen, die Orte, an denen man keine Angst hat, werden weniger. Alle werden wir zu Schuldigen an dem Unglück der Palästinenser. Wer nicht mitbombt, mitschießt, muß demnächst befürchten, selbst erschossen zu werden. Es gibt nur noch zwei Seiten. Immer wenn die Herrschenden zur Hatz auf die „arabischen Terroristen“ bliesen, deuteten wir mit dem Finger auf die von Israelis begangenen Greuel im Libanon. Wir versuchten, die Verzweiflung zu verstehen, die die Palästinenser angesichts der Arroganz der Macht gepackt hat. Wir unterstützten den palästinensischen Befreiungskampf, solange wir eine gemeinsame Utopie hatten. Weil dort von Sozialismus gesprochen wurde, von Freiheit, von einer besseren Zukunft. Diese Utopie ist im Schlachtenlärm des bewaffneten Kampfes untergegangen. Das gemeinsame Suchen nach politischen Lösungen ist dem Parolenschreien der einen und der Sprachlosigkeit der anderen gewichen. Die Nähe der Attentäter besteht jetzt zu den Opfern, denen sie ins Gesicht sehen, wenn sie sie erschießen, und zu ihren Feinden, deren Spiegelbild sie geworden sind. Antje Bauer