: In Paris redet man schon vom „Kriegszustand“
■ Nach dem Attentat auf das Postamt im Pariser Rathaus, das ein Menschenleben forderte, ist von einer Eskalation der Auseinandersetzung die Rede / Die mutmaßlichen Attentäter von der libanesischen FARL fordern die Freilassung ihres Chefs Abdallah
Paris (taz) - Postämter schließen in Paris werktags um 19 Uhr. Und kurz vor 19 Uhr, das weiß jeder, sind die Schalterschlangen noch einmal lang. Die Bombe im Rathauspostamt von Paris explodierte genau um 18 Uhr 58. Eine Frau wurde sofort getötet, es gab 18 Verletzte, von denen keiner mehr in Lebensgefahr schwebt. Das Postamt, dessen Fensterscheiben weit verstreut über den Rathausplatz lagen, war ein Trümmerhaufen. Hier residierte Jacques Chirac, nicht nur Premierminister, sondern nach wie vor Bürgermeister von Paris. Ihm sollte die Bombe eine Warnung sein. Er hätte sie einschlagen hören, wäre er zu Hause gewesen. Die Polizei vermutet hinter dem Attentat die „Revolutionäre Libanesische Armeefraktion“ (FARL). Derweil glauben sich in Paris einige bereits im „Kriegszustand“. So jedenfalls schlagzeilte gestern der sozialistische Le Matin. Jacques Chirac denkt ähnlich: „Gegen den Terrorismus, diese Lepra moderner Zeit, müssen wir einen Krieg mit allen Mitteln führen“, erklärte der Premierminister unmittelbar nach dem Attentat. Die Töne hatte ihm am Vortag die linke Liberation geliefert: „Und wenn wir uns nun mit allen Mitteln gegen die verteidigen müssen, denen alle Mittel recht sind, so laßt uns zumindest akzeptieren, daß die Eskalation erst beginnt.“ Damit erscheinen weitere Repressionsmaßnahmen des Staates auch von links im voraus gerechtfertigt. In der Tat stehen die Zeichen derzeit auf Eskalation. Die Attentate begannen im Februar dieses Jahres. Seitdem scheint das „Solidaritäts–Komitee der arabischen politischen Gefangenen“ (CSPPA), hinter dem sich die FARL verbirgt, mit aller Gewalt entschlossen, ihren mutmaßlichen Chef freizubomben. Georges Ibrahim Abdallah sitzt seit Oktober 1984 hinter französischen Gittern. Zwischen 1981 und 1983 hatte sich die FARL zu sieben Anschlägen auf französischem Boden bekannt, u.a. zur Ermordung des US–amerikanischen Diplomaten Charles Ray und seines israelischen Kollegen Jacov Barsimantov. Zur Durchsetzung der Befreiung Abdallahs aber erklärte das CSPPA die gesamte französische Bevölkerung zur Zielscheibe. Ein Modegeschäft auf den Champs– Elysees und eine Bücherei im Quartier Latin waren im Februar Schauplätze für Attentate. Im März schlug ein Attentat in der Metro fehl, ein weiteres forderte auf den Champs–Elysees zwei Todesopfer. „Wir betrachten jeden Franzosen, egal wo er sich befindet, als unser Ziel“, schrieben die Abdallah–Freunde in ihrem Bekennerbrief. Am Montag letzter Woche kündigte das CSPPA an: Der Kampf „wird erweitert und fortgesetzt.“ Bereits am Donnerstag versagte eine Bombe in der Pariser Vorstadtbahn - ihre Explosionskraft hätte nach Angaben der Polizei annähernd hundert Menschen das Leben kosten können. Das CSPPA bekannte sich auch zu diesem fehlgeschlagenen Attentat - ihr Bekennerbrief für den Anschlag im Pariser Rathaus steht noch aus. Inzwischen erklärte sich in Beirut eine unbekannte Organisation „Für Recht und Freiheit“ verantwortlich, doch die Polizei will dem wenig Glauben schenken. Nicht immer standen in diesem Jahr die Zeichen derart auf Konfrontation. Nach dem Regierungsantritt Chiracs legte das CSPPA eine Attentatspause ein. Der neue Premierminister drängte ganz offensichtlich auf eine schnelle Lösung der Abdallah– Frage. Im Juli wurde Abdallah in Lyon zu lediglich vier Jahren Haft verurteilt. Seine vorzeitige Freilassung stand in Sicht, als daraufhin der Untersuchungsrichter im zweiten Abdahllah–Prozess in Paris die Einstellung des Verfahrens für möglich befand - sicher nicht ohne Anweisung seines Justizministers. Dann aber traten unerwartet die USA ins Geschehen ein und erklärten sich im Pariser Prozeß, wo es um die Ermordung Rays geht, zu Nebenklägern. Abdallah wurde zum französisch–amerikanischen Streitfall, und Chirac kam in die Defensive. Staatspräsident Mitterrand ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, seinen ungeliebten Premierminister in Verlegenheit zu bringen. Er schloß vorzeitig jeden „Terroristenhandel“ aus. Chirac steht heute also unter Zugzwang. Schon letzte Woche forderte die Regierung die Franzosen zur „Wachsamkeit“ auf, während man das Polizeiaufgebot, insbesondere in der Metro, wesentlich verstärkte. So bleibt wenig Hoffnung, daß der Premierminister sich den Rat des Postamtchefs vom Gare de Lyon zu eigen macht: „Gegen die Attentate kann man wenig machen, wenn man zuviel daran denkt, bekommt man eine Psychose.“
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