: „Überall bin ich nur verarscht worden...“
■ Der Weg des Werner Mühlbach in den Analphabetismus / Wer nicht lesen, schreiben und rechnen kann, lebt im gesellschaftlichen Abseits / Trotz hoher Lehrerarbeitslosigkeit kaum Möglichkeiten, Analphabeten zu betreuen / Hilfegesuch an den Bundespräsidenten wurde mit einem Almosen von 200 DM abgeschmettert
Von Kaasten Reh
Köln - Das Hochhausviertel in Köln–Neubrück ist genauso trist wie andernorts auch. Hier wohnt der Analphabet und einst entmündigte Werner Mühlbach im Weißmantelweg 5. Als er die Tür öffnet, entschuldigt er sich sofort für das totale Chaos in seiner Wohnung und räumt Hemden, Hosen und Cassetten vom Sofa. Werner Mühlbach räumt fast nie auf: „Für was und wen soll ich mir denn die Mühe machen, es kommt sowieso nie jemand.“ Der 30jährige lebt völlig isoliert. Um aus seiner Einsamkeit herauszukommen, entwickelt er ungeheure Energien. Nach langen Irrläufen über Ämter und Institutionen versucht er einen neuen Anlauf über die Öffentlichkeit: Presse, Hörfunk und Fernsehen; alle sollen über ihn berichten. Er ist nervös, als er an fängt zu erzählen: „Ich war Spätentwickler, d.h. ich habe erst mit vier Jahren Sprechen und Laufen gelernt. Trotz eines Gutachtens, bei dem ein niedriger Entwicklungsquotient festgesstellt wurde, wurde ich eingeschult wie jedes andere Kind. Aber schon nach einem Jahr schob man mich in die Sonderschule ab. Da bin ich auch nicht mitgekommen und wurde dann in einer Tagesstätte für Behinderte untergebracht. So schnell gilt man hier als bekloppt. Warum hat man mich nicht erst einmal zurückgestellt?“ Werner Mühlbachs Schilderung umfaßt die Jahre 1967 bis 1972, eine Zeit, in der er zum Analphabeten wurde und die seine Lebenssituation bis heute entscheidend geprägt hat. Damit gehört er zu den schätzungsweise 600.000 bis drei Millionen Menschen in der Bundesrepublik, die nicht lesen, schreiben und rechnen können. Verantwort lich hierfür sind vor allem folgende Gründe: Viele der circa 300.000 Sonderschüler werden zu früh von ihren Lehrern aufgegeben, d.h. es wird bei den „Problemfällen“ gar nicht mehr versucht, ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Dann gibt es immer noch genügend Eltern, die die Schulpflicht ignorieren. Hinzu kommen jährlich etwa 100.000 Schüler, die wegen Krankheit oder Unfall viele Ausfallzeiten haben und so durch die Maschen des Schulsystems fallen. Auch für sie ist der Weg in den Analphabetismus vorprogrammiert. Der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Bernhard Fluck, sagte dazu: „Es ist ein Unding, daß wir zwischen 600.000 und drei Millionen Analphabeten haben und zugleich 60.000 arbeitslose Lehrer.“ Der Philologenverband errechnete, daß in kleinen Gruppen jeweils innerhalb von drei Jahren 3.000 Lehrer 100.000 Analphabeten betreuen könnten. Zurück zu Werner Mühlbach: Nachdem die Tagesstätte „Verhaltensstörungen“ diagnostizierte, wurde er in das Landeskrankenhaus (LKH) Bonn eingewiesen, von dort in ein Erziehungsheim bei Cochem an der Mosel abgeschoben: „Dort konnte man höchstens lernen, wie man kriminell wird, sonst nichts. Da waren die verschiedensten Leute zusammen; Kriminelle, Schwererziehbare, Verhaltensgestörte, geistig Behinderte. Wir mußten dort arbeiten wie Sklaven. Ich habe in einem Weinkeller den ganzen Tag schwere Fässer geschleppt und kaum etwas dafür bekommen.“ Anschließend lebte Mühlbach mehrere Jahre bei seinen Eltern und jobbte als Hilfsarbeiter. Die Atmosphäre beschreibt er so: „Bei Klöckner bin ich von der ganzen Abteilung gehänselt worden. Diese Ungerechtigkeiten habe ich dann nicht mehr ausgehalten. Deshalb habe ich bei Klöckner gekündigt. Bei den anderen Firmen, wo ich gearbeitet habe, war das ähnlich. Überall bin ich verarscht worden, niemand hat meine Arbeit richtig gewürdigt.“ Ab 1979 wurde ihm dann auch noch die Möglichkeit genommen, als Hilfsarbeiter zu jobben: Sein Vater betrieb die Entmündigung - mit der Begründung, daß sein Sohn Werner „nicht in der Lage sei, seine Angelegenheiten selbständig zu regeln“. Am 6.4.1979 erklärte dann das Amtsgericht (AG) Siegburg den inzwischen zum zweiten Male in das LKH Bonn eingelieferten Werner Mühlbach für unmündig. Die Richter stützten sich in ihrem Urteil auf ein Gutachten des LKH Bonn vom 19.2.1979. Darin heißt es unter anderem: „Werner M. paßte sich dem Stationsverlauf wenig an. Er stand meist im Flur herum, überwiegend vor der Tür der behandelnden Ärztin, der er immer wieder die gleichen Fragen stellte. Die Beschäftigungstherapie lehnte er rundweg ab, da er nur nützliche Arbeit machen wollte. Das Zusammenstecken von Kulis in der Kreuzer Therapie stellte für ihn ebenfalls keine richtige Arbeit dar... und saß lustlos, lahm und verstimmt vor seiner Arbeit.“ Das und der Verweis auf seine Unfähigkeit, sich Jahreszahlen und -tage ohne Hilfsmittel zu merken, reichten aus, Werner Mühlbach in die Unmündigkeit zu schicken. Er brachte die Energie auf, gegen das Urteil zu kämpfen und hatte Erfolg. Knapp zwei Jahre nach seiner Entmündigung hob das gleiche Gericht die Entscheidung auf. Werner Mühlbach ist heute zwar von „Rechts wegen“ wieder ein freier und selbständiger Mensch, doch er lebt im gesellschaftlichen Abseits. Als Analphabet ist er ständig auf fremde Hilfe angewiesen: beim Straßenfahrplan, beim Einkaufen, bei der Wohnungssuche. Er will raus aus seiner Wohnung. „In diesem Hochhausviertel fühle ich mich wie abgeschoben. Hier herrscht eine schlechte Atmosphäre. Ein Zuhause ist das nicht“, sagt er. Werner Mühlbach würde gern woanders wohnen. Doch er kann keine Annoncen lesen. Das ohnehin schwierige Problem der Wohnungssuche wird so für ihn fast unlösbar. Um seine Situation endlich ändern zu können, möchte er Lesen und Schreiben lernen. Er fordert für sich Einzelunterricht, „da Gruppenunterricht nichts bringt“. Damit würden sich auch seine Chancen auf einen Arbeitsplatz verbessern. Er will für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen und nicht als 30jähriger Frührentner ein Almosendasein führen. Werner Mühlbach will sich nicht an den Rand drängen und mit der Wiederbemündigung und einer Rente, die den Lebensunterhalt sichert, abspeisen lassen. Ein Hilfegesuch Mühlbachs an den ehemaligen Bundespräsidenten Carstens beantwortete dieser bzw. sein Amt mit 200 DM „zur Überbrückung Ihrer finanziellen Schwierigkeiten.“
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