„Erlösungs“–These unhaltbar geworden

■ Im Frankfurter NS–Ärzte–Prozeß sagten die Geschwister von ermordeten Anstaltsinsassen aus / Die Schwestern und Brüder waren lediglich aus familiären Gründen in die Heilanstalten gebracht worden

Aus Frankfurt M. Miersch

Im Frankfurter Prozeß gegen die Ärzte Dr. Aquilin Ullrich und Dr. Heinrich Bunke haben gestern erstmals Geschwister von ermordeten Anstaltsinsassen ausgesagt. Ullrich und Bunke wird vorgeworfen, in den frühen vierziger Jahren mehrere Tausend angeblich „Geisteskranker“ in Gaskammern ermordet zu haben. Der organisierten Massentötung hatten die Nationalsozialisten den Decknamen „T–4“ gegeben. Da die Angeklagten ihre Taten als „Erlösung von schwerstkranken, lei denden Menschen“ darstellen, ist die Frage nach dem wahren Zustand der Opfer im Prozeß von entscheidender Bedeutung. Unter Tränen beschrieb die 65jährige Zeugin Jutta U. gestern den letzten Besuch bei ihrem jüngeren Bruder Walter U. in einer staatlichen Pflegeanstalt bei Magdeburg. Er habe sich sehr gefreut, sei guter Dinge gewesen und habe ihr von seiner Arbeit im Garten und in der Holzwerkstatt der Anstalt erzählt. Gemeinsam hätten sie alte Fotos betrachtet. Wenige Wochen später wurde Walter U. in der Tötungsanstalt Bernburg er mordet. Fingierte Todesursache zur Beruhigung der Verwandten: Angina und Herzinnenhautentzündung. Die Mitteilung ist mit Dr. Keller unterzeichnet. Dieses Pseudonym benutzten sowohl der Angeklagte Bunke als auch sein Vorgesetzer Eberl. Frau Us Bruder litt unter leichtem MongolismusSeine Unterbringung in einem Pflegeheim sei lediglich notwendig geworden, weil sich die Eltern getrennt hatten. Familiäre Gründe gab auch der 81jährige Wilhelm Z. im Falle seiner Schwester an. Das Mädchen litt an epileptischen Anfällen, die nach längerem Anstaltsaufenthalt jedoch immmer seltener wurden. Die Todesnachricht, die er später erhielt, diagnostizierte Lungenentzündung - Unterschrift: Dr. Keller. Nach Anhörung der Zeugen ließ Bunke durch seinen Anwalt verkünden, er sei in der Todeszeit der Patienten U. und Z. bei einem Lehrgang in Kiel gewesen. Mit den gestrigen Zeugenaussagen ist der NS–Ärzte–Prozeß in seine Endphase gegangen. Richterin Johanna Dierks kündigte für die nächste Woche das Plädoyer der Staatsanwaltschaft an.