: Özals „Militärdemokratie“ gerät unter Beschuß
■ In der Türkei finden morgen Nachwahlen für elf Parlamentssitze statt / Ministerpräsident Özal muß sich gegen die Opposition von linker, rechter und islamischer Seite wehren / Politikverbot wird ignoriert / Mutterlandspartei eine „Gesellschaft von Titanic–Passagieren“
Aus Istanbul Ömer Seven
„Er kommt, er kommt, Süleyman, der Prächtige kommt.“ Die rund 25.000 Kundgebungsteilnehmer in Istanbul sind ganz außer Rand und Band, als der Privathubschrauber Demirels zur Landung ansetzt. Mit Mühe kann eine Hundertschaft Polizei verhindern, daß Demirel auf dem Weg zum Podium von seinen Anhängern erdrückt wird. „Wir hatten Sehnsucht nach dir, Vater“, schreit die Menge. „Ich hatte Sehnsucht nach euch“, erwidert Demirel. Zuweilen verlangt die Erfüllung der Sehnsüchte auch Opfer: In Burdur riß der landende Hubschrauber einem Anhänger Demirels den Arm ab. In der Türkei herrscht Wahlkampf, elf von 400 Parlamentsabgeordneten werden neu gewählt. Das Politikverbot, das den führenden Politikern der Zeit vor dem Putsch durch die Militärs auferlegt, ja sogar verfassungs– und strafrechtlich festgeschrieben wurde, wird einfach ignoriert, und so beherrschen die Politfiguren der 70er Jahre wieder die politische Bühne: „Süleyman der Prächtige“, „der Volksjunge Ecevit“, „der Führer Türkes“ und „Glaubenskämpfer Erbakan“. Egal wie die Wahlen ausgehen, die regierende Mutterlandspartei des Ministerpräsidenten Özals wird weiterhin über stabile Mehrheiten verfügen. Die Bedeutung der Nachwahlen liegt darin, daß erstmalig seit dem Putsch alle Parteien außer der radikalen Linken kandidieren können und somit das Wahlergebnis ein recht genaues Stimmungsbild abgibt. Es wird sich zeigen, ob es Özal gelingt, sei nem Regime bei der „Volksabstimmung“ Legitimation zu verschaffen. Um dem Wähler die Entscheidung zu erleichtern, asphaltieren ganze Bulldozerkolonnen Straßen und Plätze der Wahlbezirke; Asphalt war seit jeher Wahltrumpf der Regierungsparteien in der Türkei. Einer Gesellschaft von Titanic– Passagieren gleiche die Mutterlandspartei, behauptet der Vorsitzende der „Partei des Rechten Weges“, Cindoruk, der im Auftrag Demirels die Parteigeschäfte führt. „Özal ist ein türkischer Marcos“, sagt Cindoruk, „eingesetzt von den Militärs, zum Untergang verdammt.“ Özal habe die Stimmen der Rechten veruntreut, es sei an der Zeit, sie dem wahren Herrn zurückzugeben: Demirel. Weitere Stimmenverluste drohen der Mutterlandspartei durch die islamischen Fundamentalisten. Obwohl Özal - einst selber Kandidat der islamischen Nationalen Heilspartei - einen Teil der moslemischen Politkader in die Mutterlandspartei integrierte und ideologisch der islamischen Reaktion Konzessionen macht, sind die wahren Interpreten Allahs höchst unzufrieden und treten mit einer eigenen Partei an. „Denn unter Özal nimmt der Ehebruch zu, der internationale Währungsfonds versklavt die Türkei, und die Sitten des Volkes verderben.“ „Freiheit des Barttragens für Beamte“ fordert die Wohlfahrtspartei, deren Wahlkundgebungen von zwei voneinander getrennten Menschengruppen verfolgt werden: verschleierten Frauen auf der einen, bärtigen Männern auf der anderen Seite. Der Hauptkonkurrent der Mutterlandspartei ist die sozialdemokratische Volkspartei unter Inönü, die wahrscheinlich nach der Mutterlandspartei als zweitstärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen wird. Wenn der Physikprofessor Inönü im kurdischen Bingöl den Kundgebungsteilnehmern schüchtern zuruft: „Wir werden die Folterer zur Rechenschaft ziehen“, trifft er genau die Erwartungen seiner Zuhörer. „Weg mit dem Polizeistaat, Generalamnestie“, ja sogar die in Kurdistan verbotene Parole „Freiheit den Völkern“ wird dann auf der Kundgebung gerufen. Eine Verfassungsänderung, Generalamnestie für die politischen Gefangenen, die Abschaffung der Todesstrafe, Wiedereinführung des Streikrechts und eine Reform des repressiven Strafgesetzbuches sind die programmatischen Grundlagen, mit denen die sozialdemokratische Volkspartei den Wahlkampf bestreitet. Größtes Handicap der sozialdemokratischen Volkspartei ist der sozialdemokratische Ex–Premier Ecevit. Er versagt der Partei seine Unterstützung und hat stattdessen eine eigene gegründet: die „Partei der demokratischen Linken“, deren Vorsitz seine Frau innehat. Kommunisten tummelten sich in der sozialdemokratischen Volkspartei rum, meint er. Der radikalen Linken weist er einen Großteil der Schuld am Militärputsch von 1980 zu. Die Mutterlandspartei des Ministerpräsidenten Özal ist die einzige Partei, die die gegenwärtig etablierte „Militärdemokratie“ verteidigt. Sollte sie erhebliche Stimmeneinbußen hinnehmen müssen, ist eine ernsthafte Regimekrise vorprogrammiert. Die Mutterlandspartei ist dann tatsächlich auf Titanic–Kurs.
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