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„Eine Stadt ohne Panzerautos, Sirenen, Tote ...“

■ Palermo erlebt eine neue Welle der Gewalt durch die Mafia / Die Angst der Kinder vor den „Ehrenwerten“ „Wir leben hier nicht in Beirut, sondern im Frieden“ / Mafia–Prozeß stärkt indirekt die Auseinandersetzungen in Sizilien

Aus Palermo Werner Raith

Für Annalaura leben „wir hier in der brutalsten Stadt der Welt“; Giovanni sieht sich „umstellt von Barbaren“ und denkt daran, trotz seiner erst dreizehn Jahre „auf und davon zu fahren, möglichst weit weg“; Calogero will sich, wo auch immer „eine Pistole kaufen und diese Untermenschen persönlich umbringen - ganz, ganz langsam, damit sies spüren“. Zitate aus Aufsätzen, wie sie derzeit in Sizilien zu Tausenden in den Schulen angefertigt werden. Thema: „Wie ich mir mein Palermo wünsche.“ Zitate, die die Betroffenheit einer ganzen Generation zeigen - aber auch die Bereitschaft, Gewalt immer wieder mit Gewalt zu beantworten. Seit am 7. Oktober ein Killer den elfjährigen Claudio Domino durch einen Schuß zwischen die Augen umbrachte, hat Palermo nur noch ein Gesprächsthema: Kann die Mafia, die Gesellschaft der „Ehrenwerten“, so weit absinken, daß sie Kinder umbringen läßt? Sicher: noch gibt es keinerlei Hinweise, warum der Junge sterben mußte - die Hypothesen verlieren sich zwischen einer uralten Fehde um die Familie des Vaters über die Beseitigung eines Zeugen bei einem Raubüberfall bis zur widerstandenen Erpressung der Eltern, aufgrund ihrer Tätigkeit als Reinigungsbeauftragte im Hochsicherheitsgerichtssaal (“Aula– Bunker“) des Mafia–Prozesses Gangster ins Innere des Traktes zu schmuggeln. „Wir waren das nicht“ Die Angeklagtren im Super– Prozeß haben am Tag nach dem Mord einhellig aus ihren Gitterkäfigen herausgebrüllt „Wir waren das nicht“ - aber daß es die Mafia war, daran zweifelt in Palermo kaum jemand. „Jedes erträgliche Maß ist mit dem Mord an einem Kind überschritten“ warf sich Innenminister Oscar Luigi Scalfaro in Pose - wie es aber weitergehen soll, behielt er für sich. Ein Polizist im Panzerspähwagen vor dem „Bunker“ hat da konkretere Vermutungen: „Wirst sehen, daß man den Killler bald finden wird - tot, massakriert, von den Ehrenwerten so präpariert, daß man ihnen das Verdienst an der Rache für den Jungen zuschreiben wird.“ Palermo durchlebt derzeit wieder eine seiner Krisen - freilich nicht die erste, „und es steht zu zweifeln, ob sie tiefer reichen wird als die vorangegangenen“, wie ein Mitglied der eben angereisten Antimafia–Kommission des Parlaments vermutet. Im wissenschaftlichen Lyceum Gonzaga hängt noch immer ein Bild, das den Carabinieri–General und Präfekten Carlo Alberto dalla Chiesa zeigt, wie er mit Schülern über die Mafia diskutiert. Das war Anfang Juni 1982 und stellte damals angeblich einen Wendepunkt dar - „den Kampf gegen die Mafia auf kulturellem Gebiet“ (so der Schulleiter). Drei Monate danach wurde der General erschossen, zusammen mit seiner jungen Frau Emmanuela. Auch damals stand Palermo Kopf - Staatspräsident Pertini explodierte: „Früher haben sie wenigstens die Frauen geschont“; Tausende sizilianische Schulen ließen Aufsätze gegen die „piovra“ schreiben, den „Kraken“, wie die Mafia volkstümlich, aber meist lieber hinter vorgehaltener Hand genannt wird. Geblieben ist nicht viel davon. Als im Februar 1986 der Maxi–Prozeß gegen 474 mutmaßliche Mafia– Gangster begann, übte sich Palermo in ostentativer Gleichgültigkeit. Statt der erwarteten vielen Tausend Zuschauer kam gerade ein Dutzend, meist Militante der Frauenorganisation „Associazione siciliana donne contro la mafia“. Die Mafia–Devise „niedriger hängen“ wurde allenthalben befolgt. Bis September hatten die „Eh renwerten“ selbst kräftig zum Niedrighängen beigetragen und eine Art „Pax Mafiosa“ ausgerufen: seit einem Jahr hatte es kaum mehr Gewalttote gegeben, in Sizilien im ganzen Jahr nur ein gutes Dutzend (Vergleich 1982: mehr als 300). Doch nun scheint der Friede zu Ende: gut zwei Dutzend Morde hat die Polizei seit Anfang Oktober gezählt, in Palermo und um Palermo herum, vor allem aber in den „neuen“ Mafia–Metropolen Agrigent, Syrakus, Messina. Offenbar haben, nachdem die Hauptstadt zum heißen Pflaster erklärt wurde, die Clans ihre Aktivitäten „disloziert“ - doch die genaue Terrainabgrenzung muß wohl erst noch ausgeschossen werden. Warum aber gerade jetzt wieder offener Krieg? Einer der Ermittler im Maxi–Prozeß: „Ich will den Richterkollegen aus Neapel nicht zu nahetreten, aber sicher liegt in ihrem Urteil gegen - besser zugunsten - die Camorra ein wesentlicher Grund dafür, daß die Mafia nun keine Angst mehr vor dem Prozeß haben zu müssen glaubt.“ Gut möglich: Im Verfahren gegen die Camorra von Neapel haben die Revisions–Richter alle Anklagen zurückgewiesen, die sich ausschließlich auf sogenannte „Pentiti“, auf geständige (und mit Strafnachlaß belohnte) Ex–Gangster stützten. Möglich, daß die „Ehrenwerten“ nun auch die Aussagen des „Kronzeugen“ Ex–Boss Tommaso Buscetta aushebeln zu können glauben. Ermittlungsrichter Giovanni Falcone: „Durch den Prozeß sind die Clans, die Anfang der Achtziger Jahre die alten Familien verdrängt haben, nun ihrerseits in Bedrängnis geraten. Neue, aufstrebende Gruppen suchen sich gegen die bisher herrschenden durchzusetzen.“ Vor einer Woche wurde in der palermonächsten Mafia– Hochburg Bagheria ein „Statthalter“ des bisher unumschränkt herrschenden Michele Greco - genannt „der Papst“ - erschossen: ein Versuch, die Macht auszuloten, über die der „Boss der Bosse“ nach seiner Verhaftung im März noch verfügt. Den Kindern in den Schulen ist wohl recht gleichgültig, welcher Clan herrscht. Die Sprüche der Politiker haben sie allesamt satt: „Daß die sich so entsetzen, weil es ein Kind erwischt hat, finde ich unglaublich“, schreibt Carlo vom Lyceum „Gonzaga“, „ganz so, als ob man Erwachsene mit mehr Recht abknallen dürfte“. Moral steht bei den meisten gar nicht einmal im Mittelpunkt - eher schon der ganz intime Wunsch nach Ruhe. „Ich wünsche mir eine Stadt ohne Panzerautos, Sirenen, Tote“, schreibt Emanuela, „eine Stadt, in der ich weiß, daß mein Papi und meine Mami und mein Bruder am Abend lebendig nachhause kommen.“ Emanuela ist acht Jahre alt. „Und wir leben hier nicht in Beirut“, sagt ihre Lehrerin, als sie mir das Heft zeigt, „sondern in Palermo, und im Frieden.“

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