: „Eine Geschichte wie aus dem Horrorkabinett“
■ In Italien findet der erste Prozeß wegen „Sklavenhaltung“ statt / Tausende von Kindern wurden aus Jugoslawien verschleppt und im Hafen zu Dieben „ausgebildet“ / Der erste von 80 Prozessen: Ein gezeichnetes Opfer / Angeklagter streitet alles ab
Aus Mailand Werner Raith
Er sieht längst nicht mehr so aus, wie ihn das „Aufgreif–Protokoll“ schildert, „verwahrlost, mit zerschlissenen Hosen, drei großen Beulen am Kopf, Blutstriemen“; Osman, mutmaßlicher Nachname Sulimanovic, mutmaßliches Alter „um die zwölf“, mutmaßlicher Heimatort Nis in Jugoslawien, trägt bei seiner Einvernahme vor dem Schwurgericht Mailand einen feinen Bürstenschnitt, neue Bluejeans und Lumberjack. Sein Italienisch ist ausgezeichnet, das Mikrophon hält er wie der Show– Master Renzo Arbore im Fernsehen - „fehlt nur noch, daß er zu singen beginnt“, murmelt der Kollege vom „Gionale“. Aber zu singen ist da kein Anlaß: Die feine Erscheinung Osmans ist Frucht eines Jahres in einem Heim für elternlose Kinder. Italiens Behörden hatten den Ehrgeiz zu zeigen, wie Kinder aussehen können, von deren schrecklichem Dahinvergetieren man noch vor zwei Jahren keinerlei Ahnung hatte - oder haben wollte: „Ein Stück aus dem Horrorkabinett“, wie Il manifesto sich entsetzte. Osman gehört zu den mutmaßlich drei– bis viertausend, mögli cherweise sogar zehntausend Kindern, die seit Beginn der achtziger Jahre, vorwiegend aus den ärmsten Regionen Jugoslawiens, illegal nach Italien gebracht, zum Stehlen ausgebildet, dann meistbietend verkauft oder verliehen und von den neuen „Padroni“ auf Diebestour geschickt wurden. Italiens Behörden waren dem Spuk erst auf die Schliche gekommen, als die couragierte Jugend– Inspektorin Stefania Di Bella die beim Klauen ertappten Kinder nicht mehr nur einfach an ihre Eltern - oft genug nicht einmal als solche ausgewiesen - zurückschickte, sondern Identifikationsmerkmale festhielt und nach mehrmaligem Aufgreifen der Sache nachging. Seither wurden die Kinder nur mehr an „Eltern“ zurückgegeben, die eindeutig als solche identifizierbar waren, ansonsten in Heime eingewiesen. So stießen die Behörden 1985 auf einen ganzen Ring von „Kinderverkäufern“ - Geheimtips für Einbrecherbanden in Triest und Neapel, in Mailand und Genua, denn die „Argati“ (Unterweltjargon für die geklauten Jugoslawen, es bedeutet „der Verkaufte“) stellten eine hohe Rendite dar, kamen sie doch, weil nicht strafmündig, auch nach Ertapptwerden postwendend wieder zurück. Kein Wunder, daß der „Bedarf“ an „Argati“ mächtig anstieg. Manche der Kinder wurden, wie Ermittlungen ergeben haben, von den Eltern einfach verkauft - in armen Zonen Jugoslawiens offenbar für mache Familien eine Überlebensfrage. Die meisten jedoch wurden schlicht geraubt - wie Osman. „Ich wusch gerade Autos, da kam einer, packte mich, zerrte mich ins Auto. Ich erinnere mich an eine lange, lange Fahrt, irgendwann sagten sie mir, daß wir nun in Italien seien.“ Das war vor drei oder vier Jahren; der Vater soll, nach Osmans Erinnerung, Sascha heißen, den Namen der Mutter weiß er nicht mehr. Besser erinnert sich Osman an denjenigen, der ihn geraubt hatte, ein gewisser Fazli; der hatte ihn in seinem Wohnwagen festgebunden, nach einer Woche in die nächste Stadt gebracht und von einem größeren Jungen „ausbilden“ lassen. „Nach jeder Diebestour sind wir dann im Taxi wieder zum Camp zurückgefahren“, berichtet Osman, „jedesmal zitternd, weil es Hiebe setzte und kein Essen gab, wenn die Beute zu gering war.“ Osman rückte aus, wurde in mißhandeltem Zustand auf der Straße gefunden, aber dennoch wieder seinem „Herrn“ übergeben. Erst als er, bewegungsunfähig, in einem Bahnhof gefunden wurde, griff die Polizei ein. Italiens Behörden haben sich entschlossen, nicht mehr nur mit den sonst üblichen Paragraphen der Entführung und Freiheitsberaubung vorzugehen, sondern einen bisher niemals angewendeten Strafgesetzbuchparagraphen zu aktivieren, der fast mittelalterlich klingt: „Sklavenhaltung“; darauf können bis zu fünfzehn Jahre Zuchthaus erkannt werden. Angeklagt ist im ersten Prozeß einer der „Camp–Bosse“ im oberitalienischen Muggiano, Achmet Iskender. Osman hat ihn zweifelsfrei identifiziert und seine Erzählungen mit zahlreichen Details aus dem Camp belegt. Noch achtzig weitere Prozesse wegen „Sklavenhaltung“ werden folgen. Freilich mit einem faden Beigeschmack: handelt es sich bei den Angeklagten doch häufig um „nomadi“, zum Teil Roma–Gruppen zugerechnet. Das hat in Italien zu einer massiven „Zigeuner“– Feindlichkeit geführt, zahlreiche Städte haben die bisher gelittenen Camps aufgelöst. Ganz und gar in Vergessenheit gerät dabei, daß die lange Sklaverei ohne Mithilfe waschechter, seßhafter Italiener gar nicht möglich gewesen wäre - ohne die Camorrabanden Neapels z. B., die sich kräftig aus dem „Sklavenfundus“ (Gericht) bedienten. Nicht nur das: Im Prozeß gegen Iskender steht, in der Presse freilich nur selten erwähnt, ein feiner Rechtsanwalt namens Giampaolo Ferigo mit vor Gericht. Er war es, der die ertappten Kinder immer wieder auf der Polizeiwache abholte und ihren „Vätern“ zurückbrachte. Natürlich, wie er beteuert, „ohne von irgendetwas zu wissen“. Und völlig verdrängt wird, daß im unteritalienischen Altamura - aber auch in anderen Orten - im August noch immer der sogenannte „Markt der kurzen Hosen“ stattfindet: Da verkaufen oder „verleihen“ mittellose Familien ihre minderjährigen Kinder an Hirten oder Bauern für ein Jahr oder mehr, erhalten dafür einen bestimmten Betrag - und die Kinder werden „Eigentum“ der neuen Herren. Erst 1984 hat sich einer der Hirtenjungen umgebracht, weil er die ständigen Schläge und Demütigungen nicht mehr ertragen konnte. Wegen „Sklavenhaltung“ ist deshalb aber noch kein Italiener verurteilt worden.
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