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„Zur Enteignung der Gesundheit“

■ Umweltausschuß des Bundestages lud zur Anhörung des sogenannten „Strahlenvorsorge–Gesetzes“ Zentralisierung beim Bund / Grenzwertfestlegung per Gesetz / Herbe Kritik von SPD und Grünen

Aus Bonn Ursel Sieber

Vor dem Umweltausschuß des Bundestages ist gestern der von CDU/CSU vorgelegte Entwurf eines „Strahlenvorsorge–Gesetzes“ beraten worden. Mit dieser Anhörung ist der Weg frei, noch in dieser Legislaturperiode einen Entwurf zu verabschieden, den der grüne Rechtsanwalt Otto Schily als „Gesetz zur Enteignung der Gesundheit zugunsten der Atomindustrie“ bezeichnet hat. Gegen das Verfahren erhob der SPD–Abgeordnete Schäfer zu Beginn heftige Vorwürfe: Die Anhö rung drohe wegen der verbleibenden kurzen Beratungszeit zu einer „Farce“ zu werden. Der Gesetzesentwurf besitzt zwei Kernpunkte: allein den Bundesumweltminister, Grenzwerte per „Rechtsverordnung“ festzulegen. Die von der Koalitionsmehrheit im Ausschuß benannten Sachver ständigen begrüßten den Entwurf in beiden Punkten. So sagte u.a. der Vorsitzende der Strahlenschutzkommission, Oberhausen, unterschiedliche Grenzwerte in einzelnen Bundesländern hätten nur „zur Verwirrung der Bevölkerung beigetragen“. Außerdem forderte Oberhausen, sich den EG–Grenzwerten anzupassen. Der bundesdeutsche Strahlenschutz ist bislang wesentlich restriktiver als etwa die Vorschläge des EG–Grundnormenausschusses; eine Angleichung würde nach den Worten des SPD– Politikers Schäfer zu einer „Aushöhlung“ bisheriger Grundsätze führen. In diese Richtung wies die herbe Kritik der von SPD und Grünen benannten Experten. Bei der Bewertung der Meßdaten handele es sich um einen Bereich, wo Bundesrecht nicht einfach so über Landesrecht stehen könne, betonte der Frankfurter Professor Bothe. Die mögliche Ausschaltung des Bundesrates bei der Festlegung von Grenzwerten per Rechtsverordnung sei „problematisch“. Die Professoren Lengsfelder und Lindner wandten sich gegen eine „erzwungene Untätigkeit vor Ort“: Wenn bei Hochwasser am Bodensee die örtliche Feuerwehr einsatzbereit, die Zentrale in Bonn aber noch unentschlossen sei, „wird das kein Mensch verstehen“. (Lindner). Rechtsanwalt Geulen wandte sich vor allem gegen die Grenzwertefestsetzung per Rechtsverordnung: Eine „unbegrenzte“ Erhöhung von Grenzwerten werde dadurch möglich, die Strahlenbelastung für die Bevölkerung würde um den Faktor 10 bis 550 steigen. Der Wissenschaftler Dieter Teufel: Es würde „wahrscheinlich“ ein „Effektivdosismodell“ übernommen. Bei dieser Berechnungsmethode würden nur die zum Tode führenden Krebsfälle berücksichtigt. Damit würde die zulässige Aufnahmemenge für Radioaktivität höher angesetzt.

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