: Gorbatschow entdeckt den Fernen Osten
■ Die Sowjetunion möchte die Hürden für eine Normalisierung mit der Volksrepublik China abbauen / Die Vision einer Friedenszone im Pazifik kommt Forderungen für eine atomwaffenfreie Zone aus der Region entgegen / Druck auf Vietnam wegen Kambodscha / ASEAN–Staaten empörten sich über Gorbatschow–Rede
Von Florian Bohnsack
Erich Honecker hatte es nicht leicht, als er bei seinem kürzlich beendeten Besuch in Peking auf die kühnen Initiativen der Sowjetunion in Reykjavik hinwies und dabei nicht vergaß, Gorbatschows Rede in Wladiwostok hervorzuheben. In dieser Rede hatte der Kremlchef sein Interesse an einem Ausgleich mit China und an einer friedlichen Entwicklung im Pazifik bekundet. Doch die chinesische Führung blieb kühl. Sie machte noch einmal deutlich, wie wenig sie von den Annäherungsversuchen Moskaus hält, wenn den Worten aus Wladiwostok nicht Taten folgten. Michail Gorbatschow hatte im Juli in der östlichsten Hafenstadt der UdSSR die Asienpolitik der Sowjetunion UdSSR umrissen und in seiner Rede erklärt, daß er Europa nicht für den Nabel der Welt hält. Immerhin, so der Parteichef, lägen zwei Drittel der sowjetischen Landmassen in Asien und die Sowjetunion habe hier nationale Interessen. Er erklärte die asiatisch–pazifische Region zur eigentlichen Arena militärpolitischer Konfrontation, in der das Wettrüsten mit gefährlicher Geschwindigkeit eskaliere und die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel stehe. Dementsprechend entwarf er ein Bündel von vertrauensbildenden und friedenssichernden Maßnahmen: Der Indische Ozean solle zu einer Zone des Friedens werden, in dem die atombestückten Kriegsschiffe und Unterseeboote abzogen und mit der Reduzierung der Flottenverbände ernst gemacht werden solle. Die UdSSR wolle den Vertrag über eine atomwaffenfreie Zone im Südpazifik anerkennen, den Australien, Neuseeland und elf melanesische, mikronesische und polynesische Staaten im letzten Jahr geschlossen hatten. Dieses Abkommen verbietet Besitz, Test, Stationierung und Einsatz von Atomwaffen sowie die Lagerung von Atommüll in der Region, überläßt aber den einzelnen Unterzeichnerstaaten die Entscheidung, in ihren Häfen und Flughäfen nuklear betriebene und bestückte Schiffe und Flugzeuge anderer Staaten zu Gast zu haben. Kernstück der Moskauer Vorschläge ist eine Sicherheitskonferenz nach dem Muster von Helsinki, die in Hiroshima abgehalten werden soll. Mit Blick auf die Chinesen kündigte Gorbatschow auch die drastische Reduzierung sowjetischer Truppen an der gemeinsamen Grenze und in der Mongolei an und versprach den Abzug von sechs Regimentern aus Afghanistan. Er ging damit auf zwei von drei Vorbedingungen Pekings für eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen ein, über die dritte, die von den Sowjets unterstützte vietnamesische Besetzung Kambodschas, schwieg er noch. Doch auch in dieser Frage scheinen die Weichen auf Ausgleich gestellt. Es ist aber fraglich, ob die „Taten“ der Sowjetunion die chinesischen Bedenken ausräumen können. Das Beispiel Afghanistan Sechs Regimenter mit zusammen etwa 7.000 Soldaten abzuziehen, fiel der Sowjetunion nicht sonderlich schwer. Schließlich stabilisiert sich die Lage in Afghanistan unter dem neuen Parteichef Mohammed Najibullah, der bis zu seinem Amtsantritt Chef des Geheimdienstes KHAD war, und es bleiben noch über 100.000 sowjetische Soldaten im Lande. Geschickt hat Najibullah seine Agenten in die Widerstandsgruppen der Mudjaheddin eingeschleust und für einige Teile der afghanischen Gesellschaft glaubhaft machen können, daß seine Regierung den Islam nicht mehr bekämpfen wolle. Zudem versorgt die neue Regierung die ländliche Bevölkerung bevorzugt mit Lebensmitteln, Saatgut und Maschinen und gewinnt so an politischem Einfluß im Lande. Nach sieben Jahren Krieg will ein großer Teil der Afghanen zu einem normalen Leben zurückkehren, auch wenn an ein Ende des Bürgerkrieges jetzt noch nicht zu denken ist. Das sowjetische Oberkommando hat längst eingesehen, daß der Krieg gegen die islamischen Fundamentalisten weitaus schwieriger ist, als man es erwartet hat. Nach Ansicht von sowjetischen Beobachtern im Moskauer Arbatow–Institut könnte sich die Lage in Afghanistan in zwei Jahren soweit stabilisiert haben, daß fast alle sowjetischen Truppen abrücken könnten. Die Analyse von Institutsmitarbeitern wirft ein Licht auf die Interessen Moskaus, die damals zum Einmarsch in Afghanistan geführt hatten: Mit der Annäherung Chinas an die USA und der iranischen Revolution sah sich die sowjetische Führung in einer geopolitischen Zange und zudem die innere Stabilität der islamischen Sowjetrepubliken gefährdet. Wenn sich nun die Vorraussetzungen ändern würden - so könnte man schließen - wäre die Sowjetunion bereit, ihre Truppen abzuziehen. Voraussetzung für den Abzug wäre aber eine UdSSR–freundliche Regierung in Kabul. Der Teilrückzug von Truppen aus Afghanistan ist somit zunächst nicht mehr als eine Geste des guten Willens. Der Rückzug von sowjetischen Soldaten an der Grenze zu China dagegen reflektiert den Willen der UdSSR konkreter, zum kommunistischen Nachbarn ein entkrampfteres Verhältnis zu bekommen. Warten vor Pekings Tür Während allein im letzten Jahr der Handel zwischen beiden Mächten um 64 Prozent gestiegen ist und im Fünf–Jahres–Plan 1986 - 1990 zehn Milliarden Dollar ausmachen soll, kommt der politische Annäherungsprozeß nur langsam voran. Was die Annäherung kompliziert, sind Forderungen Chinas, die auf das 19. Jahrhundert zurückgehen. Damals hatte Rußland die Kontrolle über eineinhalb Millionen Quadratkilometer chinesischen Territoriums erobert, eine Fläche von der Westküste Frankreichs bis an die Ostgrenze Polens. Heute besteht China lediglich auf der Rückgabe von 35.000 Quadratkilometern, etwas weniger, als die Schweiz mißt, und auf dem Eingeständnis Moskaus, daß dies alles ein unrechtmäßiger Erwerb gewesen sei, den damals Petersburg dem geschwächten China abgezwungen hatte. Auf keine der Forderungen wird die Sowjetunion auf absehbare Zeit eingehen. Doch in der Frage der Grenzziehung zwischen beiden Staaten scheint eine Einigung möglich. Die Chinesen beharrten immer auf der Talweg–Lösung, der Grenzziehung an der tiefsten Stelle der Grenzflüsse, während Moskau das chinesische Ufer als Grenze ansah. Amur und Ussuri sollen jetzt, so der sowjetische Vize– Außenminister Michail Kapitsa in ihrer Mitte die Grenze bilden, womit nach Kapitsas Auffassung auch bislang oftmals militärisch umkämpfte Inseln auf der chinesischen Hälfte nun endgültig China zugestanden würden. Eine direkte Folge der Rede Gorbatschows in Wladiwostok war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und der Mongolei. Wenige Tage später tagte auch die Eisenbahnkommission zwischen China, der Mongolei und der UdSSR zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder. Bei den direkten Kontakten auf Staatsebene konnte Gorbatschow bislang den jetzt zurückgetretenen Ersten Stellvertretenden Ministerpäsidenten Archipow vorschicken. Dieser ist für die Chinesen ein alter Freund. In den fünfziger Jahren verkörperte er eine Schlüsselfigur in der engen Zusammenarbeit der beiden Länder. Er leitete im Dezember 1984 und im März dieses Jahres Verhandlungsdelegationen nach Peking, mit denen die technologische, ökonomische und kulturelle Zusammenarbeit zwischen China und der UdSSR ausgedehnt wurde. Trotz dieser Kontaktaufnahme mit der UdSSR setzt China vor allem im militärischen Bereich weiter auf die USA. Mit dem Besuch Weinbergers in Peking kurz vor dem Gipfeltreffen in Reykjavik wurde der Besuch dreier US– Kriegsschiffe vereinbart. Vom fünften November an werden sie für eine Woche in Qingdao vor Anker gehen. Ebenso bleiben die zehn Militäranlagen der USA in China bestehen, einschließlich der mit US–Soldaten besetzten Abhörstation in Xinjiang. Hatte Deng Xiao Ping den Sowjets eine Aufnahme von Beziehungen zwischen beiden kommunistischen Parteien für den Fall angeboten, daß er zwei der drei Bedingungen Chinas erfülle, sattelte der kleine starke Mann nach Gorbatschows Rede noch drauf: Kambodscha sei und bleibe das Schlüsselthema für eine wirkliche Klimaverbesserung. Gleichzeitig beruhigte er verunsicherte amerikanische Politiker mit dem Hinweis, daß es keinen monolithischen kommunistischen Block geben wird: Wir gehen nicht mehr zurück in die fünfziger Jahre. Kambodscha Als vor einem Monat der sowjetische Vizepremier Talyzin Peking besuchte, empfing Deng Xiao Ping demonstrativ die Führer der kambodschanischen Exilregierung, Kieu Samphan, Son Sahn und Prinz Sihanouk. Immer stärker wird der Druck auf die UdSSR, seinem Verbündeten Vietnam die Unterstützung für die Besetzung des asiatischen Landes zu entziehen. 115 der 159 Mitgliedsstaaten der UN haben Vietnam aufgefordert, seine Truppen aus dem Nachbarland abzuziehen. Fast gleichzeitig bekräftigten in der indonesischen Hauptstadt Djakarta die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft und des südostasiatischen Staatenbündnisses ihre gemeinsame Linie, Vietnam erst dann wirtschaftliche Hilfe zu gewähren, wenn ernsthafte Gespräche über eine politische Lösung des Kambodscha–Konflikts beginnen. Indonesiens Außenminister Mochtar sagte, daß eine politische Lösung dieses Konfliktes die Voraussetzung sei, daß die ASEAN–Staaten bessere Beziehungen zu Moskau entwickeln können, an denen die Sowjetunion ein großes Interesse hat. In der Auseinandersetzung um eine atomwaffenfreie Zone im Pazifik ist die Kritik am amerikanischen Verbündeten in der Region gewachsen. Als Mitte des Jahres US–Präsident Reagan auf der indonesischen Insel Bali und Außenminister Shultz beim ASEAN–Außenministertreffen in Manila wenig Verständnis für die wirtschaftlichen Probleme der Region zeigten, konnte Moskau als Retter in der Not auftreten. „Die Amerikaner begreifen einfach nicht, wie stark die gesunkenen Rohstoffpreise unsere Wachstumsraten beeinflussen und zunehmende Arbeitslosigkeit und soziale Unruhen unsere politische Stabilität gefährden“, klagten ASEAN–Politiker. Wünsche nach mehr US–Investitionen in ihren Staaten bügelte Außenminister George Shultz mit dem Hinweis ab, die USA hätten keine unbegrenzten Kapazitäten. Stattdessen setzen die USA den Exportanstrengungen der Asiaten ihre Handelseinschränkungen entgegen. Mit dem im vorigen Jahr beschlossenen Farm–Act über die Subventionierung von US–Agrarexporten machte Washington den australischen Weizenhändlern und thailändischen Reiseexporteuren auf dem Weltmarkt Konkurrenz. Die Sowjetunion dagegen tritt als Käufer auf: Weizen aus Australien und zunehmend auch Reis aus Bangkok. Nach der Verabschiedung der Jenkins Bill im US–Kongreß, mit der Textilimporte aus Asien stark eingeschränkt werden sollen, bot die UdSSR den Regierungen in Bangkok, Manila und Djakarta an, in Zukunft mehr Textilien aus der Region zu beziehen. Nachdem Gorbatschow in seiner Rede in Wladiwostok die Lösung des Problems allein von der Normalisierung des chinesisch– vietnamesischen Verhältnisses abhängig gemacht hatte, waren die ASEAN–Staaten empört. Indonesiens Außenminister Mochtar sah die ASEAN–Staaten zum Wurmfortsatz Chinas degradiert und drückte mit seinen Kollegen wenig Hoffnung aus, daß Moskau seinen Verbündeten Vietnam auf dessen Pateitag im Dezember zu einem Kurswechsel in der Kambodschafrage bewegen könne. Führungsgremien der UdSSR arbeiten jedoch offensichtlich eifrig an einer Lösung des Konflikts. So scheint nun die Verbesserung der vietnamesischen Beziehungen zu China seit dem Tod des vietnamesischen Parteichefs Le Duan möglich, nachdem der zur China– Fraktion zählende 79jährige Truong Ching zum neuen Generalsekretär gewählt wurde. Er vertritt seit kurzem die Idee einer Wiedervereinigung der kommunistischen Partei Kambodscha unter Führung des in Phnom Penh regierenden Flügels um Heng Samrin mit der Roten Khmer unter Ausschluß von Pol Pot und Jeng Sary. Diese Lösung käme China entgegen, das eine Regelung unter Ausschluß der Roten Khmer bislang abgelehnt hatte. Die Vietnamesen könnten sich nun wieder Prinz Sihanouk in einer politischen Rolle vorstellen und auch mit dem größten Teil der Roten Khemr leben, sickert es aus Vietnam durch. Der Truppenabzug Vietnams aus Kambodscha und die Einsetzung einer Regierung der „Nationalen Einheit“ wäre sicherlich eine politische Sensation, die in den nächsten Jahren die politischen Konstellationen in Südostasien verändern könnte.
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