: Skandal Normalzustand
■ Warum jammern wir über die toten Fische im Rhein?
Der eigentliche Skandal nach dem Gift–Unfall bei Sandoz treibt nicht im Rhein, dieser beton–kanalisierten Wasserstraße, deren Gestern–Zustand plötzlich als „ökologisches System“ verklärt wird. Der eigentliche Skandal der Chemieindustrie ist der tägliche Giftkrieg im Normalbetrieb. Denn die gleichen Agrochemikalien, die dem Rhein ungewollt als tödliche Überdosis injiziert wurden, werden ja tagtäglich zielgerichtet über die Äcker gespritzt. Einige der gefährlichsten Stoffe, die bei Sandoz in die Luft gingen, waren Beizmittel für Saatgut, die zu Tausenden Tonnen in die Dritte - und damit unsere - Welt gelangten, ehe sie teilweise verboten wurden und sich deshalb in Halle 956 stapelten. Nun ging den Schweizer Saubermännern der Bär eben mal nach hinten los. Doch die Forderung „Chemie abstellen“, die nun an Basels Mauern prangt, ist so utopisch wie blöd, weil diese Branche wie keine andere unseren Alltag im Griff hat: Beiß in ein Stück Vollwert–Knäckebrot und Du hast Sandoz im Maul! Vielmehr müssen endlich Forschungs– und Produktionsziele der bislang weltweit quasi im rechtsfreien Raum operierenden, von keiner Instanz wirklich kontrollierten Chemo– Imperien der öffentlichen Diskussion ausgesetzt werden. Das dünkt nicht weniger utopisch; Konsequenz ist nämlich: Ohne ein neues Konsumverständnis läuft gar nichts. Eine Industriegesellschaft aber, die sich zur Befriedigung fragwürdiger Bedürfnisse den Luxus solch gewaltiger Risikopotentiale leistet (das im Ersten Weltkrieg als Kampfgas „Grünkreuz“ eingesetzte Phosgen, das 1984 die Katastrophe von Bhopal auslöste, wird bei Sandoz für die Herstellung der Modefarbe gelb verwendet) und die Verseuchung der Dritten Welt billigend in Kauf nimmt, braucht sich nicht über tote Fische aufzuregen. Es tönt sarkastisch, ist aber nur logisch, was mir eine aus Afrika stammende Chemie–Ingenieurin in Basel sagte: Ihr sei es lieber, wenn die Scheiße bei uns in den Fluß läuft, statt bei ihr zu Hause übers Land gestäubt zu werden. Thomas Scheuer
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